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Süße Idee

Oder Revolution? Amsterdam baut seine Wirtschaft für die Zeit nach Corona um. Das Vorbild: ein Donut

  • 6 Min.
Amsterdam, Corona, Nachhaltigkeit, Donut

Die Revolution klingt nach Afrobeat. Ein Song dröhnt durch eine Lagerhalle im Amsterdamer Hafen, in der ein junger Mann an einem übergroßen blinkenden Schrank schraubt. Die Wärme, die Datenserver produzieren, wolle man nutzen, erzählt er: „Netflix schauen und Energie fürs Heizen erzeugen.“ 14 Start-ups brüten hier in einem Incubator über ihren Ideen für eine neue Wirtschaftsform.

Amsterdam will Europas Labor für eine Kreislaufwirtschaft sein. Im April, während der ersten Corona-Welle, hat die niederländische Hauptstadt nichts weniger als eine kleine Wirtschaftsrevolution verkündet: Man werde die Corona-Krise nutzen, um aus dem heutigen Produktions- und Konsummuster auszusteigen und der Klimakrise ein konkretes Programm entgegenzusetzen, erklärte die stellvertretende Bürgermeisterin Marieke van Doorninck. In zehn Jahren werde die Stadt nur noch halb so viele Rohstoffe verbrauchen wie heute; 2050 wird sie kaum noch auf Ressourcen von außerhalb angewiesen sein, so der Plan.

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Amsterdam, Corona, Nachhaltigkeit, Donut
Netflix and Grill: Im Amsterdamer Hafen tüftelt man an Ideen für eine nachhaltige Stadt. Die Wärme von Servern soll dabei nicht ungenutzt bleiben

Jetzt, ein halbes Jahr später, erzählt van Doorninck am Telefon: „Wir waren nicht sicher, ob die Menschen inmitten einer Pandemie für solche Pläne bereit sind.“ Aber man habe festgestellt, dass sich sehr viele Amsterdamer ein neues Wirtschaftsmodell wünschen. Und dann fällt zum ersten Mal eines der Lieblingswörter der 54-Jährigen: Donut! Denn das neue Wirtschaftsmodell soll sich an der Oxford-Ökonomin Kate Raworth orientieren, die die „Donut-Ökonomie“ erfunden und die Stadt Amsterdam beraten hat. Eine Wirtschaft, die den Planeten schont, stellt sie sich wie einen frittierten Teigring vor.

Ist die Donut-Ökonomie mehr als ein „Politikporno“ aus leeren Floskeln? 

Der Donut symbolisiert dabei, wie viele Ressourcen die Menschheit verbrauchen darf. Das Loch des Donuts steht für ein Leben, in dem es an Essen, Bildung und Wohnraum mangelt – weil man zu wenige Ressourcen nutzt. Das umweltverträgliche und zugleich sozial fortschrittliche Leben spielt sich im frittierten Teig ab. Werden aber mehr Ressourcen verbraucht und Emissionen ausgestoßen, lebt die Gesellschaft außerhalb des Zuckergusses und damit über ihre Verhältnisse, das heißt: Sie verbraucht mehr, als der Planet bieten kann, und zerstört die Welt langfristig. So wie das im heutigen System der Fall ist. 

Dass ein solches theoretisches Konzept mit netter Metaphorik die große Kehrtwende einläuten könnte, stößt auf Skepsis. Einen „Politik-Porno“ aus vielen leeren Floskeln nennen Kritiker den Vorstoß. Was dagegen spricht: In Amsterdam sprießen an allen Orten Projekte aus dem Boden, die die Kreislaufwirtschaft konkret umsetzen wollen. Drei davon stechen heraus

 
Amsterdam, Corona, Nachhaltigkeit, Donut, Beton
Harter Stoff: Mit der Kreislaufwirtschaft könnte selbst Zement wiederverwendet werden – bei dessen Produktion ein knappes Zehntel der weltweiten CO2-Emissionen anfällt

Bauen: Ein stiller Umweltsünder

Der Chemiker Koos Schenk steht in einer Fabrikhalle, über ihm hängt ein Schild: „Smart Circular Product“. Er greift in einen Haufen aus zerbröckeltem Beton und wirft eine Handvoll in die Luft. „Das ist Zement – vermengt mit Wasser, Sand und Steinchen wird daraus Beton“, erklärt er. Zement könne problemlos aus der alten Betonmasse herausgefiltert und wiederverwendet werden. Stattdessen gilt der Schutthaufen heute meist als Abfallprodukt. „Die weltweite Zementherstellung verursacht momentan rund dreimal mehr CO2-Emissonen als der Flugverkehr“, sagt Schenk. Aber die Industrie beachte Möglichkeiten zur Wiederverwertung bislang kaum. Dabei sei die Aufbereitung problemlos im großen Stil möglich – das demonstrieren die Berge an recyceltem Zement, die sich in den Lagerhallen nebenan türmen. Er soll bald als Abschlussdeich am Ijsselmeer, dem See, an dem Amsterdam liegt, verbaut werden.

Wohnen: Energie aus dem Hausboot

Für den Wohnungsbau würde in Zukunft allerdings immer weniger Zement und Beton benötigt. Zumindest dann, wenn es nach Markus Schmid geht. Er führt durch sein Hausboot im Norden Amsterdams. Die Innenwände sind aus Lehm, die Einrichtung stylish, durch eine Fensterfront blickt man auf ein Biotop, mit dem die Wasserqualität im ehemaligen Industriegebiet verbessert werden soll. Hier, in der Gemeinschaft „Schoonschip“, erproben 105 Menschen in 30 schwimmenden Häusern ein neues, energieneutrales Wohnkonzept.

Der Deutsche, der seit vielen Jahren in den Niederlanden lebt, zeigt auf die Wasseroberfläche. „Von da unten bekommen wir die Wärme, die wir zum Heizen verwenden“, sagt er – das funktioniere über Wärmepumpen. Der Strom kommt währenddessen über Solarpaneele vom Dach. Das Abwasser aus der Toilette wird mit einer Vakuumpumpe wie im Flugzeug in einen gemeinsamen Tank geleitet, wo es zu Biogas verwertet wird. Die Gemeinschaft teilt sich elektrische Autos und hält regelmäßige Treffen ab, um das Zusammenleben zu organisieren. Ziel des Projektes: „Wir wollen sehen, wie weit man als Gruppe in Sachen Nachhaltigkeit kommen kann.“

Essen: Landwirtschaft in der Stadt

Eine andere Seite der Selbstversorgung lebt Debra Solomon. Die Wissenschaftlerin forscht zu sogenannten Food Forests. Wir stehen in ihrem „Laborwald“, einem Garten in einem Wohnviertel im Norden der Stadt: auf der einen Seite ein paar Bäume und Sträucher, in der Mitte ein Glashaus, daneben ein kleiner Teich. Hier testet Salomon, wie sie die geschädigte Biodiversität auf möglichst kleiner Fläche ankurbeln kann. Der Teich habe in kürzester Zeit viele Vogelarten angelockt, Frösche hätten ihren Weg in den Garten gefunden und der Boden sei mittlerweile so nährstoffreich, wie er sonst in den Tropen zu finden ist, erzählt Solomon.

Ihre Food-Forest-Konzepte würden bereits in Bezirken im Westen und im Südosten Amsterdams angewandt. „Gemeinsam mit den Communitys entwickeln wir Ideen, wie wir möglichst brauchbare Pflanzen auswählen können“, so Solomon. Ein selbstverwalteter Gemüse- und Obstanbau in der Stadt – das sei ein Schritt in Richtung Unabhängigkeit von langen Lieferketten, meint sie. Dennoch glaubt sie nicht, dass ein solcher Ansatz in einer dicht besiedelten Stadt gelingen würde. Sie fühlt sich von der Stadtpolitik allein gelassen – bei der Stadtplanung würden weiterhin wirtschaftliche Interessen im Vordergrund stehen. Solomon findet: So richtig ernst genommen werde die Klimakrise auch hier in Amsterdam nicht.

Auch Kopenhagen, Philadelphia und Portland machen mit

Neben Zement recyceln, energieautarken Hausbooten und Urban Gardening im großen Stil entstehen auch Modelabels nach dem Kreislauf-Modell, Recyclinganlagen für Fußballkunstrasen oder Vernetzungstreffen für Donut-Enthusiasten: Aber kann das reichen, um Städte ressourcenneutral umzubauen? Amsterdams Einkaufsstraßen sind – trotz Corona – voll. Da scheint die Ansage, Amsterdam werde bereits in zehn Jahren nur noch halb so viele Rohstoffe brauchen, recht idealistisch. Müssen all die Fast-Fashion-Shops und Fast-Food-Läden die Stadt bald verlassen ?

„Unser Ziel ist es nicht, bestimmte Firmen aus der Stadt zu werfen“, antwortet die stellvertretende Bürgermeisterin Doorninck. Sie wolle sie stattdessen zur Donut-Ökonomie „verführen“. Dazu hat sie sehr konkrete Forderungen, auch an die niederländische Regierung: Sie will eine Änderung des Steuersystems. Höhere Steuern auf Rohstoffe und niedrigere auf Arbeitskraft, so die Idee. „Dadurch würde es viel attraktiver und billiger, Produkte zu reparieren, statt ständig neue Rohstoffe von der anderen Seite der Welt anzukarren“, sagt sie. Obendrein würde das viele zusätzliche Arbeitsplätze schaffen.

Es ist einer der Schritte, den auch die Erfinderin der Donut-Wirtschaft, Kate Raworth, empfiehlt. „Es würde Firmen dazu bringen, sich komplett umzuorientieren“, sagte die Ökonomin in einem Interview. Die dringendste Veränderung sieht sie bei den großen Fragen: Etwa im Umbau der Finanzwirtschaft, die ganz nach der Idee des ewigen Wachstums designt sei. Statt Wirtschaftswachstum und Bruttoinlandsprodukt müssten neue Indikatoren her, um den Fortschritt einer Gesellschaft zu messen, so Raworth. Diese Entwicklung von neuen Indikatoren ist eines der Herzstücke der Amsterdamer Strategie: Soziale und ökologische Aspekte sollen als neue Messlatte dienen.

Wie genau die neue Wirtschaft aussieht, darauf gibt es noch keine fertige Antwort. Eine vollständige Kreislaufwirtschaft, so wie Amsterdam sie für 2050 angekündigt hat, nennen einige Experten illusorisch. Eine große Lücke klafft zwischen dem großen Umweltbewusstsein der niederländischen Bevölkerung und dem wenig nachhaltigen Wirtschaftsmodell des Landes. Deshalb sei es umso bemerkenswerter, dass die Hauptstadt ihre offizielle Strategie nach dem Donut-Modell ausrichtet, sagen einige Wissenschaftler. Auch unter Politikern weltweit stoßen Raworths Ideen auf Interesse – bis nach Neuseeland ist sie für die Präsentation gereist. Kürzlich gründete sie die Plattform „Doughnut Economics Action Lab“, auf der möglichst viele Menschen dabei unterstützt werden sollen, ihre Ideen zu testen. Inzwischen haben sich Städte wie Kopenhagen, Philadelphia und Portland angeschlossen und das Donut-Modell zur Stadtdoktrin erklärt. Damit die Zukunft nicht mehr nur den Menschen schmeckt.

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