Für liberale Stimmen ist diese Entwicklung ein Beweis dafür, dass die Monogamie als höchstes Ideal der Sexualität überholt sei. Nur mit sogenannten alternativen Modellen der gemeinsamen Sexualität würden wir unseren modernen Wünschen nach Individualität, Freiheit und Mobilität in der heutigen Welt gerecht. Für Konservative wiederum bedeutet dieser Zustand den Zerfall der Sitten schlechthin. In den USA kämpfen christliche Strömungen mit Vehemenz einen erbitterten Kampf gegen den Sex vor der Ehe oder gegen die Homo-Ehe.Zugespitzt gesagt haben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Religionen den Kampf um die Vorherrschaft im Schlafzimmer verloren. Im Zuge der sexuellen Revolution der 1960er-Jahre haben sich jenseits des Ehebunds eine Vielzahl an zwischenmenschlichen sexuellen Beziehungen etabliert. Promiskuität an sich, offene Sexbeziehungen ohne Liebe, Polyamorie oder Vielliebhaberei, die Verbreitung der Pornografie, Swinger Clubs, One Night Stands oder außereheliche Geburten und nicht zuletzt die Homo-Ehe sind heute alles Varianten der Sexualität, die in Europa zumindest noch nie zuvor so gesellschaftsfähig waren wie heute.

Fast alle Religionen versuchen die Sexualität der Gläubigen zu regeln und tun sich dabei mit der sexuellen Freiheit der modernen Welt oft schwer. Aber wie verhärtet sind die Fronten zwischen Religion und Sexualität wirklich? Ist Religion per se sexfeindlich, wie der Soziologe Max Weber andeutete, als er "Sexualität als irrationalste Macht über den Menschen" bezeichnete und sie im Zwist mit dem Kontrollwunsch der Kirche sah? Oder kann die Sexualmoral der großen Weltreligionen Christentum, Judentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus einen Beitrag zu einem bewussten Umgang mit Sexualität liefern?

Auf ewig feindselig?

Schon im Jahr 1925 unterschied Max Marcuse in seinem Handwörterbuch der Sexualwissenschaft die Einstellung von Religionen zur Sexualität in drei Kategorien. Erstens in die positive Sexualreligiosität, die Sexualität als religiöses Erlebnis deutet. Zweitens in ein Spannungsverhältnis zwischen Religion und Sexualität, in dem Sex verdammt wird. Und in die dritte Kategorie, die regelt, mit welchen Partnern und unter welchen Umständen Sex praktiziert werden darf. Von der Religionsperspektive aus gesehen sind die beiden extremen Positionen auf der einen Seite die mystisch-ekstatische Form der Sexualität, die eine Einigung zweier Seelen vorsieht, und auf der anderen Seite der animalische Sexakt.

In der christlichen Welt wurden lustvoll ausgelebte Sexualität und anderweitige sexuelle Orientierungen, wie Homosexualität, von konservativen Anhängern lange tabuisiert. Wie Dr. Stephan Goertz, Professor für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Mainz, sagt, "trägt die christliche Moral schwer an der Last ihrer Tradition, die über Jahrhunderte jede sexuelle Lust negativ bewertet hat. Sexuelle Lust galt vielen als Strafe, nicht als Segen Gottes. Sie war nur dann erlaubt, wenn sie den natürlichen Zweck der Fortpflanzung erfüllen konnte." Diese strenge Lehre werde aber längst auch in der christlichen Theologie kritisiert und es gebe liberale Neuansätze, bei denen die Qualität der Beziehung zwischen zwei Partnern, hetero- oder homosexuell, im Mittelpunkt stehe. "Wer den oder die andere fair behandelt, Verantwortung übernimmt, verlässlich ist und nicht nur an sich selbst denkt, der lebt eine Beziehung, von der Christen glauben, dass sie Gott gefällt", erklärt Goertz. Auch in den anderen großen Weltreligionen, die oft ebenfalls eine strenge Sexualmoral predigen, kommen moderne Auslegungen ihrer Gesetze zum Tragen. Wie zum Beispiel im Islam.

In der Ehe ist vieles erlaubt

Das Problem mit dem Islam und der Sexualität – selbst in der Ehe – liege daher eher in seiner Auslegung und in der Frauenfeindlichkeit in vielen islamischen Gesellschaften: "Die größte Angst, die in muslimischen Ländern umgeht, ist, dass Frauen die Gleichberechtigung erlangen, sowohl innerhalb der Familie als nach außen. Weil die Ehefrau stark mit der männlichen Ehre verbunden wird, resultiert daraus eine überspitzte Kontrolle seitens der Männer. Im Koran ist nach alter Tradition daher kein Platz für eine sexuelle Revolution gegeben."Die türkischstämmige Rechtsanwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ateş kämpft als Muslimin für die sexuelle Revolution im Islam, doch sie gibt gerne zu, dass ihre Glaubensgemeinschaft nicht per se sexfeindlich ist: "Im Islam dient Sexualität nicht ausschließlich zur Fortpflanzung. Sex soll den Menschen auch Gott näher bringen, und streng genommen soll auch während des Sexualakts 'Allahu Akbar' (Gott ist groß) gerufen werden. Und obwohl der Islam stark patriarchal ausgelegt ist, so dass die Frau dem Mann unterstellt und dazu verpflichtet ist, ihrem Mann vom Samenstau zu entledigen, wird auch gesagt, dass der Mann seine Frau befriedigen muss. "Bei Impotenz des Ehemannes darf die Ehefrau die Scheidung beantragen. Wenn auch die Frau als Feld betrachtet wird, so müssen Männer ihre Frauen vorbereiten.” Es heißt, geht nicht wie Hunde zu euren Frauen. Allerdings sollen sich diese sexuellen Aktivitäten nur auf die Ehe beziehen.

Ähnliche Regelungen für Sexualität innerhalb der Ehe finden sich im Hinduismus. Obwohl die Hauptreligion des indischen Subkontinents durch erotische Darstellungen den Anschein der Freizügigkeit erweckt, herrscht heutzutage in Indien eine extrem sittsame Gesellschaftsordnung. Öffentliche Zurschaustellungen geringfügigster erotischer Handlungen, zum Beispiel Küsse, werden selbst in den verwestlichten Großstädten wie Mumbai und Delhi sozial verachtet. Und obwohl Homosexualität erst 2009 entkriminalisiert wurde, bleibt das Thema weitgehend hochgradig tabuisiert.

Dabei unterliegt dem Hinduismus eine ausgesprochen offene Sexualmoral, wie Vilwanathan Krishnamurthy, Vizepräsident des Sri Ganesha Hindu Tempel in Berlin, Neukölln, erklärt. "Sexualität und Hinduismus stehen in einer engen Beziehung zueinander; sämtliche Stellungen, viel mehr als zu der Zeit der westlichen Welt bekannt waren, wurden im Kama Sutra und im Tempelbezirk von Khajuraho vor Jahrtausenden erläutert und dargestellt. Und solange man die Gesellschaft nicht damit belästigt, ist alles erlaubt. Sexualität soll also in den eigenen vier Wänden geschehen und bestenfalls innerhalb der Ehe. Dass dieses aber lange nicht mehr der Fall ist, ist in Großstädten wie Mumbai oder Delhi zu sehen, wo immer weniger Mädchen bis zur Eheschließung Jungfrau bleiben."

Auf Eigenverantwortung zählen

Obwohl streng genommen weder vom Islam noch vom Hinduismus sanktioniert, wissen sowohl Seyran Ateş als auch Vilwanathan Krishnamurthy, dass sexuelle Kontakte außerhalb der Ehe zur Alltagsrealität ihrer Glaubensgemeinschaften gehören. Für Seyran Ateş findet die sexuelle Revolution bereits längst im Untergrund statt: "Was den Islam und die westliche Welt betrifft, leben wir in verschobenen Jahrzehnten. Ich bin optimistisch, dass die sexuelle Revolution kommen wird. Gerade im Zuge des arabischen Frühlings hoffe ich, dass die jungen Menschen am Ball bleiben. Vor allem sind sie viel weiter als ihre Gesellschaften, und die Revolution in Sachen Sexualität wird eh schon gelebt, ohne Grenzen. Das weiß auch die ganze Welt bereits." Die Jugend habe die Eigenverantwortung für ihr Sexualleben an sich gerissen. Ob die Gesellschaft folge, werde sich noch zeigen.

Wie eine solche mit der Religion vereinbare Eigenverantwortung in der Sexualität aussehen könnte, wird im Judentum wie im Buddhismus zum gewissen Teil praktiziert. Das Judentum ist körperfreundlich, Sexualität wird erwünscht, wie die liberale Rabbinerin und Publizistin Elisa Klapheck erklärt: "Innerhalb der Ehe wird Sexualität nicht nur zur Geburt gelebt, sondern auch zur Empfindung der Lust. In der Schwangerschaft soll, laut Talmud, die Frau auch noch Sex haben können. Es wird auch vorgeschrieben, wie oft. Die Frau hat ein Recht auf den Orgasmus." Es ist natürlich fraglich, inwiefern die sexuelle Revolution im strengeren orthodoxen Judentum untergebracht werden kann. Das liberale Judentum wünscht eine Beziehung zwischen Sexualität und Heiligkeit, beschränkt dies aber nicht allein auf die Ehe, wie Elisa Klapheck betont: "Bei den heutigen gemischten Lebensformen gehört mehr zu dem ehelichen Begriff. Wenn Sexualität ein Medium zur Heiligung des Körpers ist, gehört dazu auch die Homosexualität, vorausgesetzt den beiden Partnern geht es um Heiligkeit."

Mit Heiligung meint Elisa Klapheck die auf eine tiefere Integrität abzielende Handlung, die zugleich eine intensivere Nähe zu Gott will. Das Gegenteil von Sex als Konsum, sondern Sexualität als Medium sich selbst und den anderen auf eine tiefere Weise kennenzulernen. "Die sexuelle Erfahrung bekommt dann auch eine spirituelle Dimension, bei der man über die Grenze des rein Faktischen, Individuellen in etwas Größeres eingeht und sich darin vielleicht sogar wandelt."

Sex als Erleuchtung

"Im Buddhismus wird Sex nicht geregelt, das bleibt einem selber überlassen. Dennoch sprach Buddha Empfehlungen aus. Bei der Sexualität soll – wie in allen anderen Lebensbereichen – darauf geachtet werden, dass man einfühlsam und mit Verantwortungsbewusstsein mit sich selber und seinem Partner umgeht", sagt Wilfried Reuter, buddhistischer Lehrer, Leiter des Lotos-Vihara Meditationszentrums in Berlin und Frauenarzt. Somit steht Sexualität im Dienste der Offenheit und eines höheren Bewusstseins. Das höchste Ideal der Sexualität hat meditative Züge, wenn Sex nur im Jetzt von beiden Partnern erlebt wird.

Um eine sozusagen buddhistisch einwandfreie Sexualität auszuleben, soll immer wieder nach den Intentionen gefragt werden, nach der Ursache und Wirkung. Wie Wilfried Reuter erklärt, "verbietet oder erlaubt der Buddhismus explizit nicht. Stattdessen wird um Einsicht appelliert. Man soll sich fragen, was der Beweggrund für die eigene Handlung ist und welche Folgen sich daraus ergeben. Wenn gewisse Praktiken aus Mitgefühl geschehen und das beide Partner so sehen, dann steht selbst extremen Praktiken wie Sadomasochismus nichts im Wege."

Aus buddhistischer Sicht bestehen die Gefahren höchstens dann, wenn Sexualität zu sehr an die Sinneserfahrung gefesselt wird und damit eine Abhängigkeit vom Körperlichen mit sich bringt. Die Chancen der Sexualität, wiederum, ergeben sich aus dem Moment, wenn Partner gemeinsam den Orgasmus erleben. "Nach dem Orgasmus sind beide ohne Wünsche, das Ego ist tot, was gerade im Buddhismus das erstrebenswerte Ziel ist. Auf Französisch heißt auch der Orgasmus 'le petit mort', also der kleine Tod. Wenn diese Vereinigung zweier Menschen eine Einheit ergibt, hat man eine hohe Stufe der Offenheit erreicht."

Die neue Realitäten


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(Foto: Rough Guides)

In seinem Buch "The Rough Guide to Sex" schreibt der Autor James McConnachie über das Christentum und sein Verhältnis zur Sexualität und also vor allem über die Lücke zwischen religiösem Gesetz und Ausübung. Die Kirche hat nicht zuletzt unter dem Vorwurf der Doppelmoral sehr gelitten. Fälle von Kindesmissbrauch durch Pfarrer, Prediger, die genau in die Formen von sexuellen Skandalen verwickelt werden, die sie an der Kanzel verdammen, und die Weltfremdheit des Verbots von Verhütungsmitteln im Zeitalter von AIDS untergraben die Macht, die die Kirche im Schlafzimmer auszuüben versucht.

Zeitgleich aber kann unter dem Schirm der Religion inzwischen jeder seine eigene sexuelle Präferenz vertreten finden – oft als Strömung einer Glaubensgemeinschaft, die eben solche sexuellen Vorlieben aufs Härteste verurteilt. Da zeigt sich das Christentum pragmatisch und flexibel. Obwohl "The Rough Guide to Sex" einräumt, dass es in fast allen Religionen Bewegungen gibt, die für die Rechte Homosexueller kämpfen, zitiert Autor James McConnachie christliche Bewegungen als fortschrittlich im Umgang mit der Frage der Vereinbarkeit von Religion und außerehelicher Sexualität oder Homosexualität.

Diese Beobachtung bestätigt auch Dr. Stephan Leimgruber, Professor für Religionspädagogik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität München: "In beiden Kirchen gibt es Ansätze, homosexuelle Partnerschaften nicht mehr zu verurteilen, allerdings eher in der evangelischen Kirche als in der katholischen. Beide favorisieren Beziehungen von Schwulen und Lesben, die von Treue bestimmt sind. Selbst nach dem katholischen Katechismus darf man homosexuell disponierte Menschen niemals verurteilen."

Schließlich hat sich auch Jesus gerade für die Unterdrückten und Minderheiten eingesetzt, und würde heute voraussichtlich für diejenigen kämpfen, die für ihre sexuellen Praktiken verurteilt werden.

Oliver Köhler ist freier Autor und Übersetzer in Berlin. Er schreibt für Zeitungen und Magazine.