Thema – Wahlen

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Da muss mehr gehen

Gäbe es eine Nichtwähler-Partei, wäre sie 2017 zweitstärkste Fraktion im Bundestag geworden. Die Autorin Verena Friederike Hasel hätte einen Vorschlag, um mehr Menschen für die Demokratie zu begeistern: Bürgerversammlungen

Demokratie

Wahlen sind zentral für die Demokratie. Aber da muss doch noch mehr gehen als alle paar Jahre seine Stimme abzugeben. Gerade junge politische Bewegungen bräuchten andere Formate, damit ihre Forderungen Eingang ins politische System finden können. So sieht das die Autorin Verena Friederike Hasel, die darüber ein Buch geschrieben hat: „Wir wollen mehr als nur wählen“. Hier beschreibt sie, wie sie sich eine lebendige demokratische Zukunft vorstellt.

Es war einige Stunden vor seiner ersten Rede im Kongress, da wandte sich der US-Präsident Joe Biden an die Journalisten, die sich bereits im Weißen Haus versammelt hatten. „Eines Tages wird man über diese Zeit schreiben“, sagte er zu ihnen. „Nicht über uns hier, aber darüber, ob Demokratie im 21. Jahrhundert noch funktioniert oder nicht. Die Dinge verändern sich verdammt schnell. Die entscheidende Frage ist, ob man in einer Demokratie den nötigen Konsens in einem Zeitraum findet, der mit Autokratien mithalten kann.“ Mit diesen Worten hat Joe Biden meines Erachtens den zentralen Konflikt unserer Zeit umrissen. Die Kritik an der Demokratie ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Immer häufiger kritisieren selbst anerkannte Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen – etwa der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber – unsere Staatsform, weil sie den heutigen Herausforderungen so träge begegnet. Die Pandemie hat den Eindruck, dass autokratische Systeme oder Expertokratien effektiver auf Krisen reagieren, bei vielen Beobachtern noch verstärkt.

Um die Realität abzubilden, bräuchte der Bundestag ein Plus von 140 Frauen und 63 jüngeren Menschen

Doch sind diese Gegensätze überhaupt zutreffend? Demokratie versus Autokratie? Volkswille gegen Expertenmeinung? In Wirklichkeit gibt es eine weitere Alternative, die Bürger zu Experten macht und ihnen die Verantwortung für wichtige Sachentscheidungen überträgt. Die Rede ist von Bürgerversammlungen. Ich halte sie für den nötigen nächsten Schritt einer Demokratie im 21. Jahrhundert. Ein Schritt, der zugleich eine Rückbesinnung auf ihre Anfänge bedeutet.

Unsere parlamentarische Demokratie stützt sich auf Wahlen. Alle vier Jahre entscheiden wir, welche Politiker unsere Interessen vertreten sollen. Doch wenn man sich die Zusammensetzung des Bundestags von 2017 anschaut, regen sich Zweifel, ob sie dazu geeignet sind. Von den 709 Abgeordneten, die seit 2017 im Parlament sitzen, sind nur 21 unter 30 Jahre alt, und es gibt lediglich 219 Frauen. Um die bundesdeutsche Realität abzubilden, bräuchte der Bundestag ein Plus von 140 Frauen, 63 jüngeren Menschen, 107 Menschen mit Migrationshintergrund, 33 Muslimen, 123 Alleinstehenden, 244 Hauptschülern und 124 Dorfbewohnern.

Viele haben scheinbar den Eindruck, Politiker seien eine abgehobene Klasse

Auch die Wahlbeteiligung erscheint mir erschreckend gering. Wären Nichtwähler eine Partei, hätten sie bei der Bundestagswahl 2017 die zweitstärkste Fraktion gestellt. In einer GfK-Umfrage aus dem Jahr 2018 gaben nur neun Prozent an, Politikern zu vertrauen. Viele, so scheint es, haben den Eindruck, dass es Politikern vor allem um den Machterhalt geht und sie eine abgehobene Klasse sind. Welchen Zwängen Abgeordnete unterworfen sind, wird in dem kürzlich erschienenen Buch „Alleiner kannst du gar nicht sein“ eindrücklich beschrieben. So berichtet der ehemalige Grünen-Abgeordnete Gerhard Schick: „Nach der Krise wollten viele die Finanzmärkte besser regulieren. Das ist nicht gelungen, weil die Lobby am Ende zu wirkmächtig war.“ Und immer wieder bekommen Parlamentarier Schwierigkeiten, wenn sie eine andere Meinung als ihre Partei vertreten. „Dann heißt es: Wenn du nicht mit der Fraktion stimmst, wirst du nichts mehr“, wird ein Abgeordneter zitiert.

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Verena Hasel (Foto: Christine Rogge)

Verena Friederike Hasel ist Diplom-Psychologin, Journalistin, Buch-Autorin und Verlegerin des neuseeländischen Investigativmagazins „North & South“

(Foto: Christine Rogge)

Um eine Lösung für diese Probleme zu finden, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit. „Von da her kommt denn, dass man sich nicht regieren lässt, am besten von überhaupt niemandem, oder dann doch nur abwechslungsweise. Auch dies trägt also zur Freiheit im Sinne der Gleichheit bei“, schrieb der griechische Philosoph Aristoteles vor fast 2.500 Jahren in seinem Werk „Politik“. Deshalb bediente man sich in der attischen Demokratie des Zufallsprinzips. Alle Mitglieder des sogenannten Rats der 500 – so der Name eines wichtigen politischen Gremiums der damaligen Zeit – wurden per Los bestimmt. Genauso wurden auch die rund 6.000 Richter ausgewählt. Und weil jegliche Art von Machtzementierung abgelehnt wurde, durfte jeder ein solches Amt nur zwei Mal in seinem Leben ausüben. Demokratie, so wie die Athener sie verstanden, schloss Berufspolitiker aus. Doch obwohl wir Griechenland gemeinhin als Wiege unserer Demokratie bezeichnen, haben wir uns von dieser Auffassung weit entfernt.

Im Grunde ruht die Demokratie auf drei Säulen. Eine deliberative Säule mit Bürgerversammlungen, eine direkte mit Volksentscheiden und eine repräsentative mit Wahlen. Doch da wir die erste Säule weitgehend vergessen haben und der zweiten misstrauen, überfrachten wir die dritte. Dieses einseitige Demokratieverständnis hat meiner Meinung nach zur Folge, dass unser politisches System wackelt. Stabil kann es erst sein, wenn wir die Last gleichmäßig verteilen und dafür sorgen, dass die eine Säule ausgleicht, was die andere nicht tragen kann.

2016 diskutierten 99 Iren über das Thema Abtreibung – herauskam ein sehr liberaler Gesetzentwurf

Wie eine gelungene Kombination der drei Verfahren aussehen kann, hat Irland im Jahr 2016 vorgemacht. Damals diskutierten 99 zufällig ausgewählte Iren und Irinnen (wobei darauf geachtet wurde, dass die verschiedenen Altersgruppen, sozialen Schichten und Geschlechter ausreichend vertreten waren) fünf Wochenenden lang über das Thema Abtreibung. Bis dahin waren Schwangerschaftsabbrüche in Irland strengstens verboten, doch nachdem die 99 Iren und Irinnen Experten angehört und miteinander diskutiert hatten, legten sie einen sehr liberalen Entwurf vor. Dieser wurde vom Parlament geprüft und dem Volk schließlich in einem Referendum vorgelegt und angenommen. „Die Bürger sind weiter gegangen, als wir Politiker jemals geglaubt hätten“, sagte der damalige Premierminister Enda Kenny.

Richtungweisend in der Debatte war vor allem die Einbindung der Experten und Expertinnen. Es sprachen Ärzte, Anwältinnen und betroffene Frauen, es gab abwechselnd Plädoyers für und gegen Abtreibung. Die Fachleute trafen also nicht die Entscheidung, aber stellten ihr Wissen zur Verfügung. Und die 99 Iren und Irinnen hatten die Möglichkeit, eine Entscheidung unter Idealbedingungen zu treffen: Sie erhielten ausgewogene Informationen, sie konnten mit anderen diskutieren, und sie mussten anders als Berufspolitiker nicht um ihre Wiederwahl fürchten.

Wie wichtig es ist, die Demokratie durchlässiger zu machen, zeigte schon die 17. Shell-Jugendstudie im Jahr 2015. Heranwachsende würden in der Politik „punktuell und projektorientiert“ mitarbeiten wollen. „Bestimmte Sachthemen sind Jugendlichen sehr wichtig“, sagt der Politikwissenschaftler und Studienleiter Mathias Albert. Ein prominentes Beispiel ist die Fridays-for-Future-Bewegung, doch wie finden ihre Forderungen Eingang ins politische System? „Wir sind mit einem Paradox konfrontiert“, schreibt die bulgarische Politikwissenschaftlerin Albena Azmanova. „Während auf den Straßen die intensivste soziale Mobilisierung der letzten Jahrzehnte stattgefunden hat, folgt daraus nichts von Bedeutung in der Politik.“

Denkbar wäre eine ständige Bürgerversammlung als dritte Kammer neben Bundestag und Bundesrat

Auch hier können Bürgerversammlungen helfen. Zwischen April und Juni 2021 hat der Bürgerrat Klima getagt. 160 Menschen aus ganz Deutschland, zufällig ausgelost aus den Einwohnermelderegistern, die in zwölf Sitzungen Experten und Expertinnen anhörten und dann gemeinsam Vorschläge für die Klimapolitik entwickelten. Unter anderem haben sie sich für ein Tempolimit und eine Kerosinsteuer ausgesprochen. Allerdings gab es für diese Bürgerversammlung kein Mandat. Initiator war der eingetragene Verein „Mehr Demokratie“. Politiker sind also keinesfalls an die Ergebnisse gebunden.

Das muss sich ändern. Um sinnvoll arbeiten zu können, müssen Bürgerversammlungen institutionalisiert werden. Denkbar wäre zum Beispiel eine ständige Bürgerversammlung, deren Mitglieder alle sechs Monate wechseln und die während ihres Einsatzes für die Demokratie von ihrem Beruf freigestellt werden. Diese Bürgerversammlung wäre ein komplett neues politisches Gremium, eine dritte Kammer neben Bundestag und Bundesrat, in der jedoch keine Berufspolitiker sitzen, sondern zufällig ausgewählte Menschen, die in ihrer Gesamtheit die Vielfalt Deutschlands abbilden. Natürlich wissen sie in manchen Dingen weniger gut Bescheid als altgediente Politiker, aber sie lassen sich von Experten beraten und gleichen das, was ihnen an Wissen fehlt, durch ihre Freiheit aus. Auf sie nehmen keine Lobbyisten Einfluss, und sie sind auch nicht an Parteizwänge gebunden. Alle bisherigen Nichtwähler könnte man mit einer zusätzlichen Alternative locken. Auf den Wahlzetteln könnte es in Zukunft das Feld „ZB“ geben. Zufallsbürger. Und wenn genug Menschen hier ihr Kreuz setzen, kommen ausgeloste Normalbürger in den Bundestag.

Wenn Joe Biden mit seiner Prognose recht behält, werden Historiker unsere Zeit eines Tages als Ära beschreiben, in der sich das Schicksal der Demokratie entschied. Im besten Fall werden sie berichten, dass es uns gelungen ist, die Demokratie neu zu erfinden und damit zukunftstauglich zu machen

Titelbild: Kostis Fokas

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