Worum geht‘s?
Am Nachmittag des 22. Juli 2011 explodiert eine Bombe im Regierungsviertel von Oslo, die acht Menschen tötet und zehn weitere verletzt. Währenddessen findet auf der Insel Utøya nordwestlich der Hauptstadt das Sommercamp der sozialdemokratischen Jugendorganisation statt. Etwa 560 Jugendliche sind dort. Gut anderthalb Stunden nach der Explosion in Oslo sind plötzlich Schüsse auf Utøya zu hören. Kaja und andere Campteilnehmer verschanzen sich in einer Zeltplatz-Baracke. Als die Schüsse näherkommen, bricht Panik aus. Mehrere hundert Jugendliche rennen quer über die kleine Insel, in Todesangst vor einer unbekannten Gefahr. Bevor sie sich selbst rettet, will Kaja unbedingt ihre kleinere Schwester finden, die zuvor allein in ihrem Zelt geblieben war.
Was zeigt uns das?
Regisseur Erik Poppe möchte mit seinem Film die Opfer wieder in den Fokus der Erinnerung an die Anschläge von 2011 rücken. Den Namen des Täters kenne jeder, seinen menschenverachtenden Motiven sei zu viel Aufmerksamkeit geschenkt worden, sagt Poppe. Fraglich ist, ob er für das Gedenken an die Opfer eine angemessene filmische Form gefunden hat.
Wie wird’s erzählt?
„Utøya 22. Juli“ ist pures Genrekino und erzählt den Terroranschlag als Survival-Thriller: Die Kamera bleibt immer nah an der Protagonistin Kaja, lässt den Zuschauer ihre Angst und Orientierungslosigkeit mitempfinden. Das Setting der abgeschiedenen Insel, auf der arglose Stadtmenschen der Gewalt eines unbekannten Angreifers ausgeliefert sind, erinnert auch an Backwood-Horrorfilme. Und fast die ganze Zeit über quält einen die Tonspur abwechselnd mit Schüssen, Schreien und Weinen. 72 Minuten dauerte es, bis Spezialeinheiten die Insel erreichten und Anders Breivik stellten. Diese unfassbar lange Zeit will Poppe erfahrbar machen, indem er den Anschlag in Realzeit und ohne einen einzigen Schnitt filmt.
Geht gar nicht
Die mehr als einstündige Plansequenz ist eine handwerklich virtuose Leistung. Die Kamera hetzt mit den Darstellern durchs Unterholz, kauert mit ihnen am Boden, geht mit in die Fluten des Fjords und erschafft trotz hektischer Bewegungen ästhetisch komponierte Kinobilder. Hauptdarstellerin Andrea Berntzen spielt diese Tour de Force intensiv und überzeugend. Nur macht all dies das riesige Missverständnis, das dem Film zugrunde liegt, noch schlimmer. Poppe mag vorab mit Überlebenden gesprochen haben und gibt vor, ihre Perspektive einzunehmen. Doch das ist in dieser Form vollkommen unmöglich. Genrefilme können uns mit Gefühlen konfrontieren – etwa mit dem Thrill, dieser ambivalenten Mischung aus Angst und Begehren. Sie können auch Politisches verhandeln. Was sie nicht können: Den Horror eines realen Terroranschlags in Form einer realistischen Inszenierung erfahrbar machen. So ist „Utøya 22. Juli“ nur auf die perfide Spannung ausgelegt, wer am Ende lebend aus dieser Katastrophe herauskommt.
Schlimmste Szene
Die Szenen der Massenpanik und Verfolgung sind schlimm genug, aber schlimmer noch ist eine stille Szene gegen Ende des Films. Kaja und der gleichaltrige Magnus haben sich auf der Flucht wiedergetroffen und verstecken sich an der Küste zwischen den Felsen. Die Charaktere sind fiktiv – die einzige Distanz, die der Film für notwendig hält. Magnus ist ein unsensibler Depp, noch im Angesicht des Terrors quasselt er vom „Mädels Aufreißen“. Er fragt Kaja, was sie vor dem Tod unbedingt noch machen möchte. Er selbst würde einen riesigen Döner essen, den aus seiner Heimatstadt, den „besten im ganzen Land“. Kaja, die bereits zahlreichen Menschen geholfen hat, sagt, sie wolle Ministerpräsidentin werden. Eine berührende Szene soll das sein. Dabei ist doch so vorhersehbar, welche Figur das nächste Opfer wird.
FYI
Apropos Ministerpräsidentin: Gro Harlem Brundtland, die 1981 und später zwei weitere Male als erste Frau in Norwegen das Amt bekleidete, hatte am frühen Nachmittag das Jugendlager auf Utøya besucht. Breivik wollte auch sie ermorden. Die Politikerin hatte die Insel verlassen - nur wenige Minuten, bevor der Anschlag begann.
Ideal für ...
Schwierig. Man fragt sich wirklich, für wen Poppe diesen Film gemacht hat. Einige Überlebende hätten ihn bereits gesehen, erklärt der Regisseur auf der Pressekonferenz. Was sie darüber dachten, sagt er nicht. Gibt es ansonsten eine Zielgruppe für Exploitationfilme, die den Survival-Thrill realer Gräueltaten nachinszenieren?