Na, schon was rausgesucht aus den 342 Filmen, die in den nächsten elf Tagen auf der Berlinale laufen? Vielleicht „Los conductos“ aus der neuen Wettbewerbssektion „Encounters“? Da passiert laut Beschreibungstext Folgendes: „Pinky ist auf der Flucht. Gespenster hetzen ihn durch eine leere, apokalyptische Stadt. In Camilo Restrepos visionärem Spielfilmdebüt wird die Auseinandersetzung mit den eigenen Wurzeln zum Verlangen, die Welt zu verändern. Kolumbien brennt, aber Kolumbien lebt.“ Oder doch lieber den 480-minütigen „The Works and Days (of Tayooko Shiojiri in the Shiotani Basin)“, der vom Alltag einer japanischen Bäuerin in einem 47-Seelen-Gebirgsdorf handelt und laut Ankündigung „das Vergehen der Zeit erlebbar“ macht?

Neu: Die Berlinale wird erstmals von einer Doppelspitze geleitet

Wie immer ist das größte Publikumsfestival eine prall gefüllte Wundertüte. Kaum ein gesellschaftspolitisches Thema, das nicht mit einer Weltpremiere geadelt und kaum ein Fleckchen auf dieser Welt, das nicht filmisch beleuchtet wird. Denn die Berlinale auch das politischste unter den großen Filmfestivals. So versteht sie sich selbst, darauf ist man stolz. Und dieses Jahr steht das Festival besonders im Rampenlicht. Einerseits feiert es 70. Jubiläum, andererseits hat die Berlinale eine neue Führung.

Die Feier haben sich die neuen Festivalleiter Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian, die den Leiter Dieter Kosslick nach 18 Jahren ablösten, aber bestimmt anders vorgestellt: Sie mussten sie sich einiges an Kritik anhören, als bekannt wurde, dass Jeremy Irons die Wettbewerbsjury leitet. Der britische Oscar- und Golden-Globe-Gewinner fiel in der Vergangenheit immer wieder mit kruden Statements über Abtreibungen oder die Homoehe auf.

Wie gehabt: Der Umgang mit Diskriminierung ist nicht gerade konsequent

Außerdem sagte er einst, dass man einer Frau durchaus auf den Hintern patschen dürfe – das sei quasi Kommunikation und gehöre nicht vor Gericht. Dass Irons Berufung fast zeitgleich zum Auftakt des Harvey-Weinstein-Prozesses in New York öffentlich wurde (Anm. d. Red.: Der Filmproduzent wurde am 24.2. in zwei von fünf Anklagepunkten schuldig gesproch – nämlich der Vergewaltigung und der sexuellen Nötigung. Das Strafmaß soll am 11. März verkündet werden, es beträgt zwischen fünf und 25 Jahre Haft. Weinsteins Anwälte kündigten aber bereits an, in Berufung gehen zu wollen), hat die Erregung um die Personalie nicht unbedingt beruhigt. Zumal die Festivalleitung nicht überzeugend begründen kann, warum ausgerechnet Irons den Juryvorsitz für ein Festival übernehmen soll, das sich Toleranz und Gleichberechtigung auf die Fahnen schreibt. Vielleicht ging es schlicht um den glanzvollen Namen.

Neu: Der nach Alfred Bauer benannte Preis wird wegen dessen NS-Geschichte ausgesetzt

Den hatte auch mal Alfred Bauer. Der erste Festivalleiter hat die Geschichte der Berlinale geprägt, allerdings nicht nur die, wie jetzt gerade herauskam. Er war nämlich auch ein hohes Tier in der NS-Filmbranche und obendrein ein eifriger SA-Mann, wie die „Zeit“ recherchierte. Der Alfred-Bauer-Preis, der seit 1987 verliehen wird, wurde von der Berlinale-Leitung bis auf Weiteres ausgesetzt. Zugleich wurde die geplante Biografie über Bauer zurückgezogen, die sie in Auftrag gegeben hatte. Die zeichnete ein schmeichelhaftes Bild von Bauer, obgleich sie dieselben Quellen wie die „Zeit“ zitiert. Mit dem Institut für Zeitgeschichte (IfZ) hat die Berlinale jetzt eine externe Forschungseinrichtung beauftragt, die Sache zu untersuchen. Im Sommer soll sie ein Gutachten vorlegen. Halten wir fest: Die Berlinale lief holprig an.

 

Man darf gespannt sein, wie es weitergeht. Zumal das Programm – es fällt etwas dünner aus als zuvor – auf dem Papier nicht unbedingt spannender klingt als in den vergangenen Jahren. Die Hoffnungen ruhen auf ein paar alten Bekannten, die im Wettbewerb um den Hauptpreis, den Goldenen Bären, konkurrieren. Etwa Christian Petzold, der Berlin in „Undine“ in eine metaphorische Unterwasserwelt verwandelt, oder Burhan Qurbani, der Alfred Döblins Klassiker „Berlin Alexanderplatz“ in die Gegenwart transportiert hat.

Wie gehabt: Die meisten Filme wurden von Männern gemacht

Und natürlich bleibt keine Berlinale ohne einen Gender-Diversity-Report: Die 6.813 eingereichten Filme sind zu 31 Prozent unter weiblicher Regie entstanden; unter den Beiträgen, die die Berlinale schließlich auswählte, sind es 38 Prozent. Im prestigeträchtigen Wettbewerb dagegen nur 33 Prozent – im Jahr zuvor waren es noch 41 Prozent. Ein Rückschritt? Eine Konsolidierung? Und wie sind die Filme überhaupt? Darüber kann jetzt elf Tage lang mit Verve diskutiert – und auf fluter.de nachgelesen werden.

Das vollständige Programm der Berlinale gibt es hier, Tickets jeweils drei Tage vor der Vorführung an den Vorverkaufsstellen oder online – da heißt es aber schnell sein! Die Online-Kontingente sind immer sehr rasch ausverkauft. Der Tagesspiegel verrät ein paar Tricks.

Auch dieses Jahr begleitet fluter.de die Berlinale mit Rezensionen, Steckbriefen, Interviews und natürlich dem Fake-Film-Quiz!

Foto: Sebastian Wells/OSTKREUZ