Das Konzert, das die Kampagnenmacher zum Politikum erklärt hatten, war am Ende ein großes Sommernachtsmärchen. Knapp 50.000 Fans waren auf die Wiese des Hayarkon-Park in Tel-Aviv geströmt, um ihre Lieblingsband zu erleben. Bei subtropischem Wetter spielten Radiohead alte Smasher wie „Creep“ und neue Stücke ihres 2016 erschienenen Albums „A Moon Shaped Pool“. Die Mischung aus Falsett-Gesang, weinenden Gitarren und synkopischen Beats: das Spektakel, das die Besucher so ersehnt hatten. Es war der erste Auftritt seit über zehn Jahren im Mittelmeerstaat.
Zugleich war das Open-Air-Konzert aber auch ein politisches Aufregerthema. In den Wochen zuvor war die Band zur Zielscheibe geworden: entzündet vom früheren Pink-Floyd-Zeremonienmeister Roger Waters, mitgetragen von Musikerkollegen wie Ex-Sonic-Youth-Sänger Thurston Moore oder Dave Randall, früherer Gitarrist von Faithless. Die Pop-Promis haben sich mit der „Boycott, Divestment and Sanctions“-Bewegung, kurz BDS, verbrüdert, die Israel international isolieren will. Ihr Ziel: das regierende Likud-Parteienbündnis um Benjamin Netanjahu unter Druck zu setzen, seine Siedlungspolitik durch einen wirtschaftlichen, akademischen und kulturellen Boykott aufzugeben. Letzteres erweist sich als besonders medienwirksam.
Auf der Seite des Unterdrückers oder der Unterdrückten?
Die Forderung der Musiker an Radiohead, das Konzert in Tel Aviv abzusagen, war nicht nur Dauerthema in den sozialen Netzwerken, sondern auch in Zeitungen und Zeitschriften wie dem „Guardian“ oder „Rolling Stone“. Außerdem gab es eine Petition, die mehr als 40 Künstlerinnen und Künstler unterschrieben haben. Gegenüber Thom Yorke, Sänger von Radiohead, stellte Waters sinngemäß die Gretchenfrage: ob er auf der Seite des Unterdrückers oder des Unterdrückten stehen wolle – und er verglich nebenher Israel mit Nazi-Deutschland.
BDS-Kampagne
Die transnationale Bewegung „Boycott, Divestment and Sanctions“ (BDS) setzt sich für den Boykott israelischer Waren, aber auch den israelischer Künstler und Intellektueller sowie Unternehmen wie Hewlett Packard und Caterpillar, die der „Mittäterschaft bei Israel's Verletzung der palästinensichen Rechte“ bezichtigt werden, ein. Damit will sie gegen Israels völkerrechtlich umstrittene Siedlungspolitik protestieren. Neben vielen Popmusikern engagieren sich auch Intellektuelle wie Judith Butler, Naomi Klein und Laurie Penny für die Kampagne, die 2005 gegründet wurde. Ihre Kritiker sagen, sie sei eine Kollektivstrafe gegen das ganze jüdische Volk und bedrohe das Existenzrecht Israels mit Maßnahmen, die aus der Verfolgungsgeschichte der Juden stammen.
Im Antisemitismusbericht des Deutschen Bundestages (April 2017) taucht die BDS-Kampagne nur am Rande auf. Über sie heißt es, die Bewegung richte sich gezielt gegen Israel und benutze zum Teil antisemitische Stereotype. In Israel schätzt man die Kampagne als große Gefahr ein. Staatspräsident Rivlin bezeichnete sie 2015 als größte aktuelle Bedrohung seines Landes und Ministerpräsident Nethanjahu lancierte eine groß angelegte Gegenkampagne.
Ein Furor, der zur grimmigen Rhetorik der 2005 von palästinensischen NGOs gegründeten BDS-Kampagne passte, die selbst israelkritische Politikwissenschaftler wie Norman Finkelstein wegen ihrer radikalen Haltung im Nahostkonflikt kritisieren.
Die Eiferer aus der Pop-Prominenz waren nicht die ersten Musiker, die sich der umstrittenen Kampagne angeschlossen haben. In den vergangenen Jahren solidarisierten sich schon Annie Lennox und Brian Eno mit dem BDS. Und so unterschiedliche Stars wie Devendra Banhart, Carlos Santana, Vanessa Paradis und Stevie Wonder sagten bereits ihre Bühnenshows ab. Der Israel-Boykott ist im Pop-Jetset offenbar ein Accessoire, das man zur Schau trägt wie ein neues Vivienne-Westwood-Oberteil. Aber warum machen sich Musiker zu Steigbügelhaltern dieser Kampagne?
Eine Triebfeder dürfte das bis heute fortwirkende anti-imperialistische Weltbild sein, das sich der Pop in seiner Adoleszenz-Phase einverleibt hatte, damals in den 1960er-Jahren, als Bob Dylan die „Masters of War“ geißelte und Jimi Hendrix auf dem Woodstock-Festival die amerikanische Nationalhymne schredderte. In den Schützengräben des Vietnamkriegs sah man den Urkonflikt aller internationalen Beziehungen: das Verbrechen eines Hegemons an einer Ethnie, die von der Universalität der Menschenrechte ausgenommen war; ein Muster, das den Massakern der Marines in Indochina gerecht wurde – und später auf andere Konfliktherde übertragen wurde, etwa die chinesische Besetzung Tibets, die Pop-Protagonisten auf die Barrikaden rief, am zugkräftigsten in den späten 1990er-Jahren, als Free-Tibet-Konzerte in San Francisco, New York, Washington D.C. und Amsterdam Hunderttausende anlockten. Die Bühnen hatten Ikonen wie die Red Hot Chili Peppers, Björk oder die Beastie Boys geentert.
Auch dem Nahostkonflikt wird diese Folie übergestreift: Palästina als Underdog im Kampf gegen den unrechtmäßigen Besatzer Israel, der mit Atomsprengköpfen und US-Dollars hochgerüstet ist – und dem internationale Auftritte helfen, seine „Kriegsverbrechen gegen Palästinenser durch den Aufbau einer Business as usual-Atmosphäre reinzuwaschen“, wie Faithless-Ex-Gitarrist Dave Randall anmerkt. Dabei vermischt sich herrschaftskritisches Denken mit einer politischen Analyse, die sehr verkürzt ist.
Denn die Schablone, die BDS-Aktivisten der Frontstellung überstülpen wollen, passt nicht aufs Gesamtbild – zumal sie die besondere Geschichte des israelischen Staates ausblendet. Er ist kein verbrecherisches Projekt, sondern ein politischer Zufluchtsort nach den Schrecken der Shoa: ein Refugium der Juden im Land ihrer Urahnen, anerkannt von den meisten UN-Staaten.
Was nicht heißt, dass die Entstehung des heutigen Israels immer ein friedliches Unternehmen war. Die Landnahme palästinensischer Gebiete während des Sechs-Tage-Kriegs 1967 fußte auf militärischer Expansion. Zugleich haben aber auch radikale Kräfte der Gegenseite immer wieder an der Gewaltspirale gedreht, seit den 1990er-Jahren vor allem die Terroristen der Hamas. Deren Mission: den Staat Israel aus seinen Angeln zu heben.
Die BDS-Anhänger agitieren, ohne diese historischen Hintergründe zu berücksichtigen. Der Pop-Intellektuelle, DJ und Radiomoderator Klaus Walter nennt die Polemik der BDS-Bewegung deshalb „antisemitisch“. Deren Unversöhnlichkeit geht so weit, dass sie Israel das Existenzrecht verweigern: indem sie ein pauschales Rückkehrrecht aller palästinensischen Flüchtlinge und ihrer Nachkommen in israelisches Staatsgebiet verlangen – eine Migration, die jüdische Bürger zur Minderheit im eigenen Land machen würde. Und den Staat Israel damit obsolet.
Salon-Antisemitismus der Linken im Vereinigten Königreich
Es gibt einen weiteren Faktor, der die Popularität für die BDS-Kampagne erklärt. Die Popstars, die sich von ihrem Engagement Credibility erhoffen, spiegeln mit ihren Ressentiments einen verbreiteten Salon-Antisemitismus, vor allem die britischen Sympathisanten. Im Vereinigten Königreich fällt die Labour-Party immer wieder mit antijüdischen Ressentiments auf. Ken Livingstone etwa, ehemaliger Londoner Bürgermeister und Urgestein der Partei, behauptete zuletzt, Hitler habe sich in den 1930er-Jahren für den Zionismus eingesetzt – eine Geschichtsklitterung, die den Nationalsozialismus verharmlost. In Großbritannien hat der BDS auch die meisten prominenten Unterstützer, weit über Pop-Rebellen hinaus, darunter die Regisseure Mike Leigh und Ken Loach. Klaus Walter sieht in dieser Phalanx die Denkmuster einer „altbackenen Linken“ wirken, die „antisemitische und antiamerikanische Tendenzen aufweist und immer noch an die jüdische Weltverschwörung glaubt“.
In Deutschland gibt es übrigens keine namhaften BDS-Unterstützer aus dem Showgeschäft – mit Xavier Naidoo allerdings einen Popstar, der antisemitische Klischees verbreitet. In seiner Song-Tirade „Raus aus dem Reichstag“ etwa verkündete er, dass „Baron Totschild“ den Ton angebe.
Doch zurück ins Minenfeld des Nahostkonflikts: Die BDS-Bewegung wirkt vor allem verheerend auf die Suche nach einer Lösung in dieser machtpolitischen Auseinandersetzung. Sie verstellt den Blick auf eine wichtige Debatte: über die Siedlungspolitik, die Netanjahu und sein Hardliner-Kabinett vorantreiben und die in der Tat alles andere als deeskalierend ist.
Titelbild: JACK GUEZ/AFP/Getty Images