Wo kann ein Endlager für den deutschen Atommüll gebaut werden? Und wie muss es beschaffen sein, damit das strahlende Material für eine Million Jahre sicher aufbewahrt werden kann? Kriterien für eine Standortsuche zu definieren, war der Anspruch an die so genannte Endlagerkommission. Und wenn dann irgendwann ein geeigneter Standort gefunden ist, bleibt noch eine andere wichtige Frage zu beantworten: Wie kennzeichnet man ein solches Endlager, damit die Menschen auch noch rund 40.000 Generationen später erkennen, wo es sich befindet und welche Gefahren es birgt? Nach einer Lösung für dieses Problem sucht die Atomsemiotik, ein etwas umstrittener Zweig der Semiotik, also der Lehre von den Zeichensystemen. Einer der bekanntesten Atomsemiotik-Experten in Deutschland ist Christian Trautsch von der Technischen Universität Berlin.
Herr Trautsch, warum sollte es so extrem schwierig sein, zukünftige Generationen vor den Gefahren des Atommülls zu warnen?
Wir sprechen über Hunderttausende von Jahren, also einen unvorstellbar langen Zeitraum, in dem die Evolution auf der Erde in einem heute nicht abschätzbaren Umfang voranschreitet. Linguisten etwa schätzen, dass alle heute gesprochenen Sprachen nach spätestens 10.000 Jahren keinerlei erkennbare Verwandtschaft mehr zu ihren Wurzeln aufweisen. Auch Warnsymbole werden demnach von Kultur zu Kultur unterschiedlich interpretiert. Deshalb lassen sich viele Probleme der Kommunikation mit Menschen oder menschenähnlichen Wesen der Nachwelt nicht ausschließen: Werden sie über gleiche oder vergleichbare Wahrnehmungsorgane verfügen oder möglicherweise über Sinne, die außerhalb unserer heutigen Vorstellungen liegen? Kann ihre Art der Sinnesdaten-Rezeption mit der unseren verglichen werden? Kann überhaupt von einer gemeinsamen Wissensbasis ausgegangen werden oder nicht?
Die Atomsemiotik ist umstritten. In den 1980er-Jahren wollten einige Ihrer Wissenschaftskollegen Atomblumen züchten, die nur in Gebieten mit radioaktiver Strahlung blühen. Auch genetisch veränderte Katzen wurden ins Spiel gebracht, deren Fell zu leuchten anfangen soll, wenn sie mit Atomstrahlung in Berührung kommen. Kann man solche Ideen ernst nehmen?
Wir sprechen hierbei von einer biologischen Option der Informationsweitergabe. Man kann über den Sinn von Atomblumen und -katzen natürlich streiten. Aber es zeigt auch, dass wir für alle Möglichkeiten offen sein müssen. Es geht doch darum, über einen enormen Zeitraum hinweg unsere Nachfahren zu informieren und zu warnen. Dazu müssen wir kommunikative Zeichen entwickeln, die Informationen zur Atomenergie und zum Atommüll enthalten, einen Ratschlag oder eine Warnung ausdrücken sowie auf mögliche destabilisierende Reaktionen beim In-Kontakt-Treten mit Atommüll verweisen.
Wie könnte denn ein solches Warnschild der Zukunft aussehen?
Im Gebiet eines Endlagers sollten Warnschilder mit kodierten und dekodierbaren Botschaften versehen werden, die antizipierte Adressaten entschlüsseln können. Das heißt, die Schilder sollten unter Verwendung ikonischer, also auf Ähnlichkeit basierender Zeichen und indexikalischer Zeichen wie etwa Bilder, Piktogramme und Aktogramme einen „Eindringling“ unter anderem zu folgenden Schlüssen veranlassen: „Wenn ich hier jetzt weiter vordringe, entsteht ein bestimmter Sachverhalt. Dieser Sachverhalt hat Folgen, die den Zweck meines weiteren Vordringens zunichtemachen. Dieser Zeichenträger ist mit der Absicht produziert worden, mir das mitzuteilen.“ Wenn also jemand einen Zeichenträger in dieser Weise interpretiert, dann versteht er ihn als Mitteilung, und wir können von einer gelungenen Kommunikation sprechen.
Aber bei der Kommunikation mit der Nachwelt kann es ja nicht nur um Warnschilder gehen.
Das ist richtig. Für die Wartung eines Endlagers und seiner Barrieren etwa reichen solche ikonischen und indexikalischen Zeichen aufgrund ihres Mangels an Komplexität und Differenziertheit der Information nicht aus. Hierfür muss eine komplexere Form kommunikativer Zeichen entwickelt werden. Eine zusätzliche Verwendung symbolisch kodierter, im besten Fall sprachlicher Zeichen hätte also den Vorteil, den Anforderungen nach Warnung und Wartung gerecht werden zu können.
Aber auch diese „Sprache“ müsste über die Jahrtausende hinweg betreut werden, oder?
Der emeritierte Professor Roland Posner, der an der Technischen Universität in Berlin die Arbeitsstelle für Semiotik leitet, hat schon vor zwei Jahrzehnten die Schaffung einer gesellschaftlichen Institution angeregt, die ein atomares Endlager betreut und die in all der Zeit, in der es Menschen und andere Lebewesen bedroht, funktionsfähig bleibt. Nach seinen Vorstellungen soll ein aus 60 vom Volk gewählten Abgeordneten bestehender Zukunftsrat, der wie eine dritte Kammer neben Bundestag und Bundesrat existieren könnte, unter anderem mit der kontinuierlichen Übertragung von Warnungen und Informationen in die neueste Sprachentwicklung und mit der Wartung von Endlagern betraut werden.
Also eine Art Endlager-Regierung?
Egal, wie man es auch nennen will. Posner hat hierzu eine mögliche Erweiterung des Grundgesetzes angeregt. Er beruft sich dabei auf Artikel 20a des Grundgesetzes, nach dem Maßnahmen zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlage des Menschen zu treffen sind. Darüber sollte die Gesellschaft auch diskutieren, wenn wir uns jetzt endlich auf die Suche nach einem atomaren Endlager in Deutschland begeben.
Grundgesetzänderung, eine Art „Rat der Atom-Weisen“ – laufen Sie und Ihre Kollegen bei solchen Konzepten nicht Gefahr, dass man Ihnen Realitätsferne vorwirft?
Meine bisherigen Erfahrungen, die ich auf Kongressen zur Endlagerfrage sammeln konnte, bestätigen Ihre Vermutung. Wenn ich dort aber – neben Referenten aus den Fachbereichen Physik, Chemie und Philosophie – Vorträge über die Atomsemiotik gehalten habe, dann wurde weniger die Idee eines Zukunftsrates belächelt als vielmehr die biologische Optionen, die in Richtung Atomblumen und Strahlenkatzen gingen. Eine Erweiterung des Grundgesetzes hingegen, auch das ist meine Erfahrung aus Diskussionen auf diesen Kongressen, wird eher weniger als ein Ding der Unmöglichkeit bewertet. Die Bedeutung und Wichtigkeit dieses Konzepts muss nur von Seiten der Politik auch erkannt werden.
Unser Artikel „Wir suchen ein Endlager“ erklärt den weltweit einzigartigen Entscheidungsprozess, mit dem ein Standort für ein deutsches Atommüll-Endlager gefunden werden soll. Ein Standort, auf den sich alle einigen können.
Illustration: D.Dörrast/Redaktion