Jeden Morgen steigt Hacer Kırlı in die S-Bahn und fährt aus Hannover südwestlich in die knapp 20 Kilometer entfernt gelegene Gemeinde Wennigsen (Deister). Hier ist sie als kommunale Integrations- und Gleichstellungsbeauftragte Ansprechpartnerin für die Bürger*innen und die Kommunalverwaltung. Und zwar immer dann, wenn es um Diskriminierung geht – wenn Menschen anders behandelt werden, weil sie zum Beispiel weiblich sind oder eine Migrationsgeschichte haben.
Der Arbeitstag beginnt früh – schon um 7.10 Uhr steht sie in der Büroküche und kocht Tee. „Ich nutze die Zeit bis neun Uhr gern, um Mails abzuarbeiten“, sagt sie – und Mails bekommt sie viele: Pressemitteilungen, Fortbildungs- und Veranstaltungseinladungen, Nachrichten von Ehrenamtlichen, von Kolleg*innen, von Ministerien oder Kooperationspartnern. An diesem Morgen sitzt Kırlı als Gleichstellungsbeauftragte in einem Vorstellungsgespräch – eine Frau hat sich um eine Stelle als Bauingenieurin beworben. „Wir hatten noch andere Bewerber, aber sie war die einzige Frau, deswegen wollten wir sie unbedingt treffen.“
Kırlı achtet im Vorstellungsgespräch darauf, dass niemand aufgrund des Geschlechts ungleich behandelt wird. „Die Grundsäule meiner Arbeit ist eine Parität zwischen den Geschlechtern zu schaffen, dazu gehören Personalangelegenheiten, also auch Vorstellungsgespräche und andere Maßnahmen, und zum anderen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie“, beschreibt Kırlı ihr Aufgabengebiet.
Häusliche Gewalt, Stellenbesetzungen oder ein Burkini im Schwimmunterricht, damit beschäftigt sich Kırlı
Grundsätzlich ist in Niedersachsen jede Kommune mit mehr als 20.000 Einwohner*innen verpflichtet, eine hauptberuflich beschäftigte Frau mit der Hälfte ihrer regelmäßigen Arbeitszeit als Gleichstellungsbeauftragte zu bestellen. Dass Wennigsen mit rund 14.000 Einwohner*innen eine angestellte Gleichstellungsbeauftragte hat, sei politischer Wille gewesen – und dass die Stelle neben Gleichstellung auch den Bereich Integration umfasst, ebenso.
Viermal die Woche bietet Kırlı gemeinsam mit zwei Sozialarbeitern eine Sprechstunde an. Zu ihnen kommen Frauen, die häusliche Gewalt erleben, Geflüchtete, die Probleme mit der Ausländerbehörde haben, oder Menschen, die sich zu Themen beraten lassen wollen, die etwas mit Gleichstellung oder Integration zu tun haben. So kam etwa einmal eine Schule auf Kırlı zu, weil eine muslimische Schülerin nicht beim Schwimmunterricht mitmachen durfte. Kırlı setzte sich dafür ein, dass das Mädchen einen Burkini bekam. Ein anderes Mal wurde ein Vater in ihre Beratung geschickt, weil er sein Kind geschlagen hatte. Als Kırlı ihm erklärte, dass man Kinder nicht schlagen darf, fragte er, ob er denn seine Frau schlagen dürfe. „Da sind dann von mir eben beide Perspektiven gefragt“, so Kırlı.
„Man kann die Synergieeffekte der beiden Ämter nutzen und gucken, wo es Schnittmengen gibt“, sagt Kırlı. Wenn sie zum Beispiel mit einem Architekten darüber spricht, wie man Gewalt in einer neuen Flüchtlingsunterkunft vorbeugen kann, schaut sie eben nicht nur, welche Anforderungen für welche kulturellen Gruppen erfüllt sein müssen – sie hat auch die Bedürfnisse der Frauen im Blick, die hier mit vielen fremden Männern zusammenleben werden. So soll in diesem Fall jede Wohneinheit mit eigener Küche und eigenem Bad ausgestattet sein, sodass Frauen sich in ihren Räumen sicherer fühlen können.
Viele Menschen werden aus mehreren Gründen diskriminiert
Manchmal ist das nicht ganz so einfach, dann stehen ihre beiden Rollen im Konflikt miteinander. Bewerben sich zum Beispiel bei gleicher Eignung ein Mann mit Migrationsgeschichte und eine Frau um eine Stelle, muss Kırlı, sofern Frauen unterrepräsentiert sind, die Frau vorschlagen – obwohl gerade mal 4,4 Prozent der Belegschaft in der Verwaltung eine Migrationsgeschichte haben. Besser fände es Kırlı, wenn nicht eine Person beide Ämter innehätte – sondern es zwei Zuständige geben würde, die eng zusammenarbeiten. So bliebe auch mehr Zeit für die einzelnen Anliegen.
„Vieles fällt einfach hintenüber“, sagt Kırlı, die gern noch mehr verändern würde. Etwa den Blick auf andere Geschlechter – jenseits der Einteilung in Frau und Mann, so wie es das Niedersächsische Kommunalverfassungsgesetz, auf dessen Grundlage Kırlı arbeitet, derzeit noch vorsieht. Ebenso wünscht sie sich gesellschaftlich ein stärkeres Problembewusstsein dafür, dass Menschen aus mehreren Gründen diskriminiert werden können. „Nach dem Gesetz hat das Geschlecht weder einen kulturellen oder religiösen Hintergrund, noch ist es arm oder reich“, sagt Kırlı. „Da ist die Gesellschaft aktuell einfach weiter als die Gesetze. Ich würde mir wünschen, dass sich gesetzlich etwas ändert.“ Ein aktives Stimmrecht in Vorstellungsgesprächen wäre zum Beispiel ein Anfang. Bisher kann Kırlı lediglich Empfehlungen aussprechen.
Wenn Kırlı nach ihrem Arbeitstag schließlich durch Wennigsen zurück zum Bahnhof läuft, sieht sie direkt, wo ihre Arbeit den Alltag der Menschen konkret betrifft: Die Gehwege müssen breit genug für Kinderwagen sein. Hecken dürfen nicht zu hoch sein, damit keine Angsträume entstehen. Und die Straßenbeleuchtung sollte natürlich genügend Licht spenden. Wenn sie an der Neubausiedlung Caleidis vorbeikommt, sieht sie, dass die Menschen hier nicht nur im Erich-Pollähne-Weg wohnen, sondern auch im Sophie-Sichart-Weg oder dem Laya-Semmler-Weg. Die paritätische Benennung der Straßennamen – ein Erfolg, den Kırlı für sich verbuchen kann: „Es kommt eben auch auf solch kleine öffentlichkeitswirksame Aufgaben an.“
Titelbild: Ricardo Wiesinger