»Wir haben uns totgelacht, als wir da reinkamen. Wie die arbeiteten, diese Hilfsmittel!« Wenn Tobias Hollitzer von den Ereignissen in der Nacht des vierten auf den 5. Dezember 1989 erzählt, hebt er die Stimme. Als wolle er wieder durchs Megafon zu denMontagsdemonstranten sprechen. Vielleicht ist das auch noch so ein alter Reflex, laut werden, wenn es auf Mut ankommt. Dass er damals, als sie mit einer Gruppe Oppositioneller in das berüchtigte Gebäude mit der »Runden Ecke« vordrangen, zum Spaßhaben aufgelegt war, mag man dem Mann mit der Nickelbrille jedenfalls nicht so recht abkaufen. Er sich selbst auch nicht: »Warum lacht der Mensch ursprünglich?«, fragt er. »Aus Angst.« Gelbe Gardinen, Linoleumfußboden, Überwachungskameras – Türen mit Knauf, die zuschnappen wie Fallen. Angesichts des vergilbten Schreckens im Gebäude mit der abgerundeten Ecke am Leipziger Innenstadtring vergeht vielen Besuchern noch heute das Lachen. Vor allem die Jüngeren bringen nur noch selten nennenswertes Vorwissen über die DDR und ihre Geheimpolizei mit. Besonders wenig ist es bei denen aus demOsten, wie die Museumsführer hier täglich erleben. Aber genau das gibt ihrer Arbeit einen Sinn. Heute war wieder eine Gruppe von der Bundeswehr da, sagt der Museumsdirektor. Die kommandiert ihre Truppen aus dem Raum Leipzig regelmäßig zur politischen Horizonterweiterung an diesen Ort, wo die Rekruten den Mund nicht wieder zukriegen: »Damit sollen die ein ganzes Volk überwacht haben?«

Überall stehen hier Apparate der Marke Eigenbau und irgendwelche selbst gebastelten Utensilien herum, in denen die Absicht eines allumfassenden Staates, seine ungefügigen Bürger zu gängeln, banal böse Gestalt annimmt. »Stasi – Macht und Banalität « heißt die Dauerausstellung in den weitgehend unveränderten Räumen der Stasi Leipzig. Dass es hier einmal die erste Stasi-Gedenkstätte geben würde und Tobias Hollitzer, der ehemaligeStaatsfeind, sie leitet – wer hätte sich das im Herbst 1989 ausmalen können. Vielleicht einer von Hunderttausenden. Auf dem Foto von einer der Montagsdemonstrationen ragt aus dem Meer der Köpfe ein Transparent, bekritzelt mit »Runde Ecke – Schreckenshaus, wann wird ein Museum draus!« Dass hier Monate später tatsächlich ein Stasi-Museum eröffnet, ist ein Wunder – aber eins, das sich erklären lässt.  

Revolution mit Fallbeil und Genickschuss

Die Stasi-Angst sitzt tief in der DDR. Die Republik ist noch jung, da schlagen die Tschekisten (hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter) schon ungestüm los: Allein in den ersten sechs Monaten 1953 werden 4.200 politische Gefangene gemacht und sechs davon hingerichtet. 1955 weitere sechzehn. Und das ist nur der Anfang. Die Staatssicherheit, »Schild und Schwert der sozialistischen Einheitspartei«, wähnt sich ganz weit vorne im Lauf der Weltgeschichte. Sie hilft der marxschen Formel vom sicheren »Stasi weg, hat kein Zweck!«, riefen die Demonstranten von draußen. Um 20 Uhr durfte die erste Delegation des Neuen Forums das »Schreckenshaus« betreten Thema: DDR — 23 Sieg des Proletariats im Klassenkampf mit Fallbeil und Genickschuss nach. Erst als Erich Honecker Anfang der 70er-Jahre mehr internationale Anerkennung und bessere Handelsbeziehungen für sein Land erwirken will, muss der Staatsterror subtileraufgezogen und an die »unsichtbare Front« verlegt werden. Die als »Juristische Hochschule« verbrämte Stasi-Uni in Potsdam setzt das Thema »Psychologische Zersetzung« aufs Curriculum. Die Lektionen für die gehobene Unterdrückerlaufbahn lautet nun: Karrieren verbauen, Kinder von Eltern entfremden, in Ehen Misstrauen säen, Bewegungsfreiheit rauben – zum Beispiel durch Führerscheinentzug. Die Stasi ist vernetzt mit allen Staats- und Verwaltungsorganen. Gewaltenteilung, jenes demokratische, für staatlich organisierten Terror so lästige Hindernis, gibt es nicht. 91.000 hauptamtliche Mitarbeiter und zuletzt ca. 200.000 IMs haben freie Bahn, das Leben kritischer Geister von innen und außen aufzubohren.

Die Staatsmacht zeigt Nerven

Die Hollitzers warnen ihren Sohn vor dem Protestieren: Ob er denn nicht wisse, wie am 17. Juni 1953 die Aufstände niedergeprügelt wurden? Aber es hilft nichts, Tobias gehört zu den ersten, die 1989 gegen das Regime auf die Straße gehen. Bei den jungen Oppositionellen funktioniert die alte Drohkulisse nicht mehr so lückenlos. Vielleicht fehlt dazu die Erinnerung an die physische Brutalität der frühen Jahre. Jedenfalls sind sie es, die den alten Angstgegner auf den Montagsmärschen als Erste schon mal verbal attackieren. Erste Rufe »Stasi weg, hat kein Zweck!« kommen auf. Als im Laufe des Novembers die SED-Macht in Berlin zusehends bröckelt, stimmen mehr Menschen ein. Es wird lauter: »Stasi weg, hat kein Zweck!« Die Stasi-Oberen zeigen Nerven. Sie warnen das Neue Forum vor Übergriffen. Weil Gewaltlosigkeit in Leipzig oberste Maxime ist, baut sich eine Abordnung der Bürgerrechtler als friedlicher Puffer vor der Runden Ecke auf.Doch selbst die vom eigenen Gegner geschützte Stasi bleibt lernschwach. Ihre Dreistigkeit wird in der neuen Konstellation sogar erst richtig plakativ: Hinter dem Rücken der Bürgerrechtler läuft in der Runden Ecke die ganz große Aktenvernichtung an. Das liegt in der Luft: Lastwagen verlassen das Areal und aus Kaminen steigt Rauch. Mit jeder Schwade steigen auch die Erwartungen der Straße an die revolutionäre Initiative des Neuen Forums. Das große Vorbild ist allerdings schon längst nicht mehr Lenin, sondern eine Erfurter Frauengruppe. Die hat, um den in der dortigen Stasi-Kreisdienststelle ebenfalls angelaufenen Akten-Abtransport zu stoppen, einen Bagger samt Führer gekapertund angeordnet, die Eingänge des Gebäudes mit Betonplatten und Baustellensand zu verrammeln. Die Nachricht der Ereignisse vom Montagvormittag erreichen die Leipziger blitzschnell, natürlich auch die Stasi, die ja immer alles weiß. Nur für den bevorstehendenAbend weiß sie keinen Rat. Die Herren Tschekisten laufen im Büro des Neuen Forums auf und fordern großspurig eine »Sicherheitspartnerschaft«. Doch mit Fordern sind jetzt die anderen dran. Die Ansage des Neuen Forums lautet: »Stoppt die Aktenvernichtung und legt noch heute Abend alles offen, dann bleibt es friedlich. Oder ihr bekommt Besuch von voraussichtlich 250.000 Demonstranten. « Das Ministerium der Angst willigt ein.

Gegen 20 Uhr betritt die erste Delegation des Neuen Forums das Gebäude, um das die Leipziger fast 40 Jahre lang einen großen Bogen gemacht haben. Tobias Hollitzers Anspannung entlädt sich, wie gesagt, erst mal in Übersprungslachen. Die Räume des verhassten »VEB Horch und Guck« erinnern eher an die Heimwerkstatt eines Verfolgungswahn-Psychotikers, als an die Zentrale einer gefürchteten Geheimpolizei. Da stehen selbst gezimmerte Geräte zum Briefe öffnen und schließen, Schräglichtlampen zumEntziffern von Geheimcodes, mit Kameras präparierte Handtaschen und falsche Bäuche. In den Telefonabhöranlagen leiern aus Westpaketen geklaute Audiokassetten. Da gibt es verschiedene Bastelecken: zum Personalausweisefälschen, zum Perückenknüpfen oder zum Kneten von falschen Nasen. Der Rest des Gebäudes ist rammelvoll mit Akten, die mithilfe solcher Tarnungen gefüllt worden sind. Zehn laufende Kilometer Ordner sind es,wie sich später herausstellt. Den Mitgliedern des Neuen Forums wird klar: Der Feierabend fällt flach, jetzt ist Revolution. Aktive Besetzung ist gefordert, um die weitere Vernichtung von Beweismaterial zu verhindern. Noch in derselben Nacht gründet sich das Bürgerkomitee zur Sicherung der Stasi-Akten. Nicht ohne Gegenwehr.

»Die wollten uns ständig einwickeln«, erinnert sich Tobias Hollitzer, »wenn wir dazu aufforderten, einen Panzerschrank zu öffnen, konterten sie: ›Ihr wollt doch Rechtstaatlichkeit, jetzt werdet euch doch nicht untreu‹«. Historisch einmalig ist auch, wie viele Schlüssel in dieser Nacht angeblich gerade mit einem anderen Mitarbeiter unterwegs sind. Erst mal bedarf es Verhandlungsgeschick: im Umgang mit der Stasi, aber auch mit der Volkspolizei, die das Gebäude ab jetzt von außen sichern soll. Die Vopos haben Angst vor den aufgebrachten Massen und machen erst mit, als das Neue Forum die ungewöhnliche Kooperation zwischen Polizei und Dissidenten auf einem Transparent draußen am Gebäude gut sichtbar absegnet. Dann muss die DDR-Staatsanwaltschaft eingeschaltet werden und Räume versiegeln. Das Neue Forum muss zusätzlich eigene Siegel basteln, weil auch der Staatsanwaltschaft nicht zu trauen ist. Raum für Raum müssen sie sichern – immer, wenn in der Runden Ecke ein weiteres Licht aufleuchtet, jubeln draußen die Demonstranten. Sie sind jetzt wirklich das Volk, von dem alle Gewalt ausgeht, und sie wollen Erfolge sehen. Regelmäßig berichtet einer der Besetzer über Megafon von den neusten Entdeckungen. Erst nach und nach wird die ganze Dimension sichtbar:

Freigang in gemauerten Käfigen

Ein Großteil der Briefpost im Raum Leipzig musste zuerst durch das Nadelöhr der Stasi. Sämtliche Telegramme liefen parallel in der Runden Ecke vom Ticker. Bisweilen reichten kleinste Anzeichen von Regimekritik, damit die Verfolgungsmaschine anlief: Wie bei der Leipzigerin, die im Café neben einen Zeitungsartikel eine kritische Notiz geschrieben hatte. Ein anderer Fall: Jemand bot Westbesuchern der Leipziger Frühjahrsmesse seine Privatunterkunft und freundete sich mit einem an. Der neue Freund und seine späteren Briefe kamen jedoch nicht aus Hamburg, sondern von der Stasi. Er sollte dem Leipziger eindeutige Kritik am System entlocken. Verdächtige wie er wurden unter Vorwänden auf Amtsstuben geladen, nur damit sie auf präparierten Stühlen ihre Geruchsprobe hinterließen. Vergleichshunde brachten Tatgegenstände wie Flugblätter mit den archivierten Duftmustern zusammen und zerstörten so mitunter Menschenleben. Stasi-Untersuchungshaft trat man nicht an, man verschwand darin: Die Stasi machte Gefangene nach der Verhaftung orientierungslos, isolierte sie strikt und verwehrte ihnen jeden Kontakt nach draußen. Freigang gab es nur in gemauerten Käfigen von wenigen Quadratmetern. Nachts wurde ständig das Licht in den Zellen an- und ausgeknipst. Auch kranke Gefangene kauerten in unbeheizten Räumen, einige mussten angekettet in ihren eigenen Exkrementen liegen. Der Unterdrückungsapparat war zu einer Parallelgesellschaft ausgewuchert mit eigener Sparkasse, Sauna, Klinik unterm eigenen Dach. Die Stasi hatte eigene Finanzquellen: rund 32 Millionen D-Mark Beutegut aus Plünderung von Westpost und viel mehr noch aus dem Waffenhandel.

Die aktive Besetzung ist für Tobias Hollitzer eine bizarre Erfahrung. »Man entdeckte eine Scheußlichkeit nach der anderen und zugleich entstand so eine merkwürdige Nähe«, erinnert er sich. »Wenn man ein paar Tage zusammenarbeiten muss, bleibt es nicht aus, dass man irgendwann auch über andere Dinge redet. Da sind ja auch Leute dabei, die Kinder haben.« Doch die Gefahr, sein Feindbild, oder besser gesagt den festen inhaltlichen Standpunkt vorschnell zu verlieren, ist in diesen Tagen nie wirklich groß. Bald kommt der »Plan X« ans Licht, den die beiden obersten Erichs des Landes, Mielke und Honecker, bis in den späten Herbst 89 in der Schublade bereithielten, immer noch auf eine günstige Gelegenheit hoffend. Die »Direktive 1/67« sah vor, »zur Bewältigung von Krisensituationen «, innerhalb von 24 Stunden das ganze Land mit Lagern zu überziehen, in denen Personen mit »verfestigter feindlich-negativer Einstellung« zu »internieren«, »isolieren« und »liquidieren« waren. Die Gelegenheit bleibt aus, weil zu viele Menschen im Lande Mut beweisen. Die Macht haben jetzt die anderen, die mit der verfestigten Einstellung. Nach wenigen Tagen ist die Selbstauflösung der Leipziger Stasi-Bezirksverwaltung beurkundet. Weitere Bezirksverwaltungen und die Berliner Zentrale folgen. Sechs Monate später organisiert das Neue Forum die erste öffentliche Stasi-Ausstellung der Welt auf dem Sachsenplatz.

»Dass wir mit so vielen Menschen vernünftig handeln konnten und so ein diffiziles Problem gelöst haben, war für mich schon wie ein Wunder«, sagt Tobias Hollitzer. Überhaupt sieht er als politisch engagierter Mensch wunderbare Zeiten anbrechen zum Jahreswechsel 89/90. An den Runden Tischen lassen sich die ehedem fest betonierten politischen Strukturen formen wie weich gekneteter Ton. Doch auch im neuen, demokratischeren System weht ein kalter Wind, der die Verhältnisse wieder erhärten lässt. Da ist der Plan des damaligen Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble, die Stasi- Akten vor der Wiedervereinigung zu vernichten, damit die alten Streitigkeiten nicht den Wiederaufbau und die Zukunft der neuen Bundesländer belasten – so seine Begründung. Erst die frei gewählte Volkskammer erwirkte die dauerhafte Öffnung der Stasi-Aufzeichnungen. Und dann ist da der ständige Geldmangel, der die Arbeit der Gedenkstätte in der Runden Ecke bedroht, obwohl der Besucherstrom und das Informationsbedürfnis zusehends wachsen. Über eine Million Menschen kamen bis Oktober 2008 in die Runde Ecke. Trotzdem muss Tobias Hollitzer auch im Jahr 20 nach der Wende mit Kulturstaatsminister Bernd Neumann förderpolitische Fragen diskutieren und für die weitere Kofinanzierung durch Bund, Land und Kommune kämpfen. »Revolution macht eben auch viel Arbeit«, ist so ein Lieblingsspruch von Tobias Hollitzer, der irgendwie immer noch passt.