Auch das Gänsefüßchen war ein Nazi. Und der Schriftsteller und Philologe Victor Klemperer hat es entlarvt. Jenes scheinbar so unschuldige Satzzeichen hat im Dritten Reich gewaltig Karriere gemacht und sich der Sprache der Machthaber angeschmiegt. Propagandaschreiber benutzten Anführungszeichen in einem Maße, das vorher, in der Weimarer Republik und im Kaiserreich, nicht üblich gewesen war. Sie markierten damit nicht nur einfach die wörtliche Rede, sondern sie wollten die in Gänsefüßchen gesetzten Wörter mit hämischer Ironie als angemaßt und erlogen brandmarken. Victor Klemperer schrieb:

Wenn die spanischen Revolutionäre einen Sieg erfechten, wenn sie Offiziere, wenn sie einen Generalstab haben, so sind es unweigerlich „rote ,Siege‘“, „rote ,Offiziere‘“, ein „roter ,Generalstab‘“. Dasselbe ist später mit der „russischen ,Strategie‘“ der Fall, dasselbe mit dem „,Marschall‘ Tito“ der Jugoslawen. Chamberlain und Churchill und Roosevelt sind immer nur „Staatsmänner“ in ironischen Anführungszeichen, Einstein ist ein „Forscher“, Rathenau ein „Deutscher“ und Heine ein „deutscher Dichter“.

Der Steckbrief, mit dem das Anführungszeichen als Nazi zur Fahndung ausgeschrieben wurde, findet sich in Klemperers Buch „LTI“ – die Abkürzung steht für „Lingua Tertii Imperii“, lateinisch für „Sprache des Dritten Reichs“. Es erschien zum ersten Mal 1947. Dieses „Notizbuch eines Philologen“ beruht auf Aufzeichnungen, die der 1881 geborene Sprachwissenschaftler schon während der Nazizeit gemacht hatte. Heimlich. Weil solche Schriften für einen Juden das Todesurteil bedeutet hätten, wenn sie bei einer der Hausdurchsuchung durch die Gestapo gefunden worden wären.

Für Klemperer war die Beschäftigung mit der Sprache der Diktatur ein Kampf um seine wissenschaftliche Selbstachtung. Denn dem Dresdner Professor für Romanistik war von den Nazis nicht nur 1935 der Lehrstuhl entzogen worden – in „LTI“ beschreibt er, dass schon vorher nur noch sehr wenige Studenten den Mut hatten, in seine Seminare zu kommen. Später war es ihm als Juden verboten, in Bibliotheken Bücher auszuleihen oder Zeitschriften zu abonnieren. Seine private Bibliothek ging verloren bei der Vertreibung aus dem Haus in Dresden-Dölzschen im Jahr 1940 und bei den Umzügen von einem „Judenhaus“ zum anderen, wo man die wenigen überlebenden „Nicht-Arier“ zusammenpferchte. Juden durften nur „jüdische“ Bücher besitzen. Klemperer schildert, wie es eine Leidensgenossin schaffte, sogar ihre Ausgaben deutscher Klassiker zu behalten, indem sie deren Herausgeber bei der Gestapo als Juden „entlarvte“.

Also musste Klemperer einen Forschungsgegenstand finden, der leicht zugänglich war. Aus dem Meer der Sprache fischte er sich die allgegenwärtigen Begriffe eines spezifischen Nazi-Deutschs heraus und verfasste ihre Steckbriefe. Berühmt ist der Abschnitt, in dem er die Umwertung des ursprünglich im 18. Jahrhundert auf religiöse Eiferer bezogenen Wortes „fanatisch“ beschreibt: „Fanatique oder fanatisme sind Wörter, die von den französischen Aufklärern durchweg im äußersten Tadelsinn (...) angewandt werden.“ Doch bei den Nazis wird „fanatisch“ zu einem positiven Attribut. Während der gesamten Ära des Dritten Reiches, so Klemperer, sei es „superlativisch anerkennendes Beiwort“ gewesen: „Es bedeutet die Übersteigerung der Begriffe tapfer, hingebungsvoll, beharrlich, genauer: eine glorios verschmelzende Gesamtaussage all dieser Tugenden (...).“

Klemperer ist auch der erste, der nach dem Kriege über Wörter wie „gleichschalten“ (im Sinne von „das gesamte öffentliche Leben auf Parteilinie bringen“) oder „Weltanschauung“ (als Ersatz für „Philosophie“) oder „aufziehen“ (in der Bedeutung „veranstalten“, Goebbels spricht immer von „groß aufgezogenen Aktionen und Propagandakampagnen“) schreibt. Aber der Wissenschaftler notiert auch Kulturgeschichtliches, das über die bloße Linguistik hinausgeht. So gibt es in „LTI“ Beobachtungen und Gedanken über die Mode der germanischen Namen und über die Runenzeichen, die von 1933 bis 1945 in Gebrauch kommen – nicht nur bei der SS, sondern auch in Familienanzeigen, wo die aufwärts weisende „Fackel“-Rune den Geburtsstern und – nach unten gerichtet – das Todeskreuz ersetzte.

Sein Werk ist auch ein Zeugnis der Einsamkeit eines Überlebenden

Klemperers „LTI“ ist bis heute nicht nur eine herausragende historische Quelle und das Grundlagenwerk, mit dem die wissenschaftliche Erforschung der Nazis und ihrer Propagandasprache begann. Sie ist auch ein berührendes Zeugnis der Einsamkeit eines Überlebenden. Einsam ist Klemperer aus vielen Gründen: In den Judenhäusern ist er nicht nur vom gesellschaftlichen Verkehr und den akademischen Debatten abgeschnitten. Seine Hellhörigkeit trennt ihn sogar von den wohlwollenden Menschen, die ihn am Arbeitsplatz heimlich ihrer Solidarität versichern oder ihm etwas zu Essen zustecken – und dann trotzdem Floskeln und Wörter der Nazi-Propaganda ganz selbstverständlich herunterleiern, ohne es zu bemerken. Und er wird auch in einem ganz düsteren Sinne immer einsamer: In „LTI“ beschreibt Klemperer, dass er die wenigen verbliebenen Bücher sehr häufig von anderen Bewohnern der Judenhäuser „geerbt“ habe, die längst in die Vernichtungslager gebracht und ermordet worden sind. Vor diesem Schicksal schützte ihn bis zuletzt die Liebe seiner nichtjüdischen Frau Eva, die sich hartnäckig weigerte, in eine Scheidung einzuwilligen und stattdessen alle Leiden ihres als minderwertig eingestuften Mannes teilte, der zur Zwangsarbeit am Dresdner Güterbahnhof eingesetzt wurde.

Nie hätte sich der assimilierte Klemperer, der 1912 sogar zum Protestantismus übergetreten war, eine solche Barbarei vorstellen können. Er hatte für Deutschland im Ersten Weltkrieg gekämpft, hatte in Frankreich und Italien gelebt. Sein Jüdisch-sein spielte für ihn keine große Rolle: „Ich war meines Deutschtums, meines Europäertums, meines Menschentums, meines zwanzigsten Jahrhunderts so sicher.“

Für Klemperer war die Erforschung der Nazi-Sprache nicht nur eine wissenschaftliche Beschäftigungstherapie, bei der er die Wörter wie bizarre Käfer bestaunte, die aufgespießt in einer Glasvitrine gesammelt lagen. Nein, er hielt die Begriffe auch für Erreger, die geholfen hatten, ein ganzes Volk mit dem Geist der Nazis zu infizieren – bis zur allgemeinen Entmenschlichung. All diese Wörter hat es schon vorher gegeben, aber „alles ist übernommen, und doch ist alles neu und gehört der LTI für immer an, denn es ist (...) ganz durchgiftet worden mit nazistischer Grundtendenz.“

Deshalb war Klemperer, der nach dem Krieg zurück nach Dresden zog, erschrocken über jedes Relikt der LTI, das er in den Nachkriegsjahren aus dem Munde ganz unverdächtiger Menschen zu hören bekam – selbst in der DDR, in der er den besseren deutschen Staat sah. Wie viele andere Gegner und Opfer des Hitlerregimes glaubte er, der Westen sei ein Sammelbecken für ehemalige Nazis. Auch Dankbarkeit für die russischen Befreier und die roten Arbeiter, die ihn bei der Zwangsarbeit menschlich behandelt hatten, spielte wohl eine Rolle. Bald nach Kriegsende trat er der KPD bei. Schon in „LTI“ drückt er an vielen Stellen seine Sympathie für den Bolschewismus aus. So schreibt er einmal: „Seitdem sich der Marxismus zum Marxismus-Leninismus weiterentwickelt hat, ist der Schwerpunkt des geistigen Europäertums nach Moskau verlagert.“ So lange die Wörter der Nazis nicht ausgerottet waren, glaubt er, lebte ihre Ideologie noch in den Köpfen der Menschen weiter. Er beruft sich auf das Schillersche Wort von der „Sprache, die für dich dichtet und denkt“. Und er glaubte, dass es eben auch die Sprache ist, die für uns mordet und henkt. Oder doch, dass sie zumindest langfristig Menschen so abstumpfen und verrohen kann, dass aus ihnen Mörder und Henker werden.

Der Wachsamkeit in sprachlichen Dingen, die Klemperer noch als DDR-Bürger auszeichnete, entsprach in Westdeutschland die Arbeit von Dolf Sternberger. Dieser gab 1957 das „Wörterbuch des Unmenschen“ heraus, eine Sammlung von Zeitungsartikeln, die sich mit Wörtern beschäftigt, die durch die Nationalsozialisten eine bräunlich-propagandistische Färbung bekommen hatten. Manche davon hatte auch schon Klemperer angezeigt, wie etwa „charakterlich“, bei anderen ist der spezifisch faschistische Gebrauch erst durch Sternberger und seine Mitautoren Gerhard Storz und Wilhelm E. Süskind herausgestellt worden, beispielsweise bei „betreuen“, das in der Tarnsprache der Nazis so viel bedeutete wie „Behinderte umbringen“. Sternbergers „Wörterbuch des Unmenschen“ war in Westdeutschland so einflussreich, dass angehenden Journalisten zu Beginn ihrer Ausbildung Listen von Wörtern vorgelegt wurden, deren Gebrauch es zu vermeiden galt.

Den Ungeist der Nazi-Sprache entdeckte er auch im geteilten Deutschland

Dagegen waren Klemperer und sein „LTI“-Buch im Westen fast nur Sprachwissenschaftlern bekannt. Berühmt wurde Klemperer erst in den neunziger Jahren, als seine zweite, 45 Jahre jüngere Frau Hadwig Kirchner seine Tagebücher aus der Nazi-Zeit herausgeben ließ. „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“ wurde ein Überraschungs-Bestseller, der auch Vorlage für einen großen Fernseh-Mehrteiler war.

Zur Sprache der neuen Diktatur hat er sich niemals öffentlich geäußert. Erst die 1999 postum veröffentlichten Tagebücher der Jahre 1945 bis 1959 lassen erkennen, dass ihn seine Hellhörigkeit nicht verlassen hatte. So schreibt er bereits im Juni 1945: „Ich muss langsam anfangen, systematisch auf die Sprache des vierten Reiches zu achten. Sie scheint mir manchmal weniger von der des dritten unterschieden als etwa das Dresdener Sächsische vom Leipziger. Wenn etwa Marschall Stalin der Größte der derzeit Lebenden ist, der genialste Stratege usw.“ Unter dem Kürzel „LQI“ (Lingua Quarti Imperii) finden sich dann immer wieder Notizen zum Propagandajargon sowohl des Westens als auch des Ostens. Die einen brandmarken kommunistische Funktionäre als „russenhörig“ und nennen Ostdeutschland nur „drüben“ und den Kulturbund den „verlängerten Arm“ der SED. Die anderen verunglimpfen den Frankfurter „Wirtschaftsrat“ der englisch- amerikanischen Bizone als „das deutsche Vichy“ und beschimpfen Unternehmer als „Monopolherren“.

Ein Tagebucheintrag vom 12. Oktober 1949, fünf Tage nach Gründung der DDR, lässt zunehmende Zweifel erkennen: „,Die Deutsche Demokratische Republik‘. Das tobt seit gestern im Rundfunk. Die Präsidentenwahl, die Aufmärsche, die Reden. (...) Mir ist nicht wohl dabei. Ich weiß, dass es nazistisch genau so geklungen hat u. zugegangen ist.“ Zu einer Distanzierung von der DDR konnte sich Klemperer aber nicht aufraffen. 1950 wurde er Abgeordneter der Volkskammer, 1956 nahm er von Präsident Wilhelm Pieck den Vaterländischen Verdienstorden entgegen. Innerlich aber empfand er zunehmend Resignation. In seinem Tagebuch steht: „Deutschland ist ein in zwei Stücke zerfahrener Regenwurm; beide Teile krümmen sich, beide vom gleichen Faschismus verseucht, jeder auf seine Weise.“ Nach einem überzeugten Kommunisten klingt das nicht.