Dieter Thomä bringt für dieses Gespräch schon gute familiäre Voraussetzungen mit: Sein Vater war der berühmte Arzt und Psychoanalytiker Helmut Thomä. Er selbst ist Philosophieprofessor an der Universität Sankt Gallen in der Schweiz und beschäftigt sich seit Jahren mit der Stellung der Familie in der Gesellschaft. Ergebnis dieser Forschung sind unter anderem seine Bücher "Eltern. Kleine Philosophie einer riskanten Lebensform" und "Väter. Eine moderne Heldengeschichte". Dass er selbst zwei Kinder hat (die aus dem Haus sind) und nicht nur herumtheoretisiert, hat ihn uns als Gesprächspartner noch sympathischer gemacht.
fluter: Herr Thomä, was ist eine Familie?
Thomä: Familie ist der Kern der Gesellschaft, in dem etwas Besonderes passiert: Alte und Junge leben zusammen, die einen treten auf, die anderen treten ab. In dieser Keimzelle steckt eine ungeheure Dynamik.
Im Gegensatz zu den Freunden kann man sich seine Familie nicht aussuchen. Streiten sich Kinder deshalb so oft mit ihren Eltern?
Die Eltern kann man sich nicht backen. Aber dass man nicht alles selbst bestimmen kann, ist gar nicht so schlecht. In der Familie muss ich nicht dauernd einen unübersichtlichen Statuskrieg führen, nicht dauernd stark sein und mich ständig behaupten.
Augenblick mal. Jugendliche streiten sich doch ständig mit ihren Eltern über die Rollen in der Familie. Zum Beispiel darüber, ob man noch ein Kind ist, das sich alles sagen lassen muss.
Es gibt ja zwei Seiten der Medaille. Auf der einen Seite ist da ein tiefes Gefühl von Verbundenheit. Wenn es einem richtig dreckig geht – dann gibt es wenige Beziehungen, die so verlässlich sind wie die familiären. Aber gerade weil man so vorbehaltlos bejaht wird, gibt es dann auch wieder furchtbare Enttäuschungen. Weil man im Konfliktfall denkt: Gerade die müssten mich doch verstehen. Weil die emotionale Abhängigkeit so groß ist, ist auch die Verletzung viel größer. Das kennt man außerhalb der Familie nur bei Liebesgeschichten. Da ist man auch manchmal himmelhochjauchzend und dann wieder zu Tode betrübt.
Wie wichtig sind denn Reibereien in der Familie?
Reibung erzeugt Wärme – eben Reibungswärme. Wenn man in der Schule oder am Arbeitsplatz Zoff hat, wird es kalt um einen herum, ungemütlich. Wenn es in der Familie Streit gibt, ist das oft ein Zeichen, dass es keine Gleichgültigkeit gibt. Da macht sich also jemand Gedanken um einen. Es gibt auch Familien, wo jeder macht, was er will. Die Eltern arbeiten den ganzen Tag, die Kinder backen sich eine Pizza auf. Das ist heikel, weil die Familie ihren Sinn und Zweck verliert. Da schleicht sich in der Tat Kälte ein.
Kann man es nicht auch tolerant nennen? Jeder macht sein Ding.
Für mich ist das Toleranz aus Bequemlichkeit – dass man also den anderen machen lässt, sich aber auch gar nicht für ihn interessiert. Mir geht diese partnerschaftliche Lesart auf den Keks. Damit tun die Eltern so, als wären sie die Kumpel der Kinder. Nach dem Motto: Ich lebe mein Leben, du deins. Das mag okay sein, wenn die Kinder 30 sind, aber davor sollte man die Beziehung nicht zu einer unter vielen machen, die so ähnlich ist wie eine Freundschaft.
Sind nicht die meisten Kinder froh, wenn sie von den Eltern in Ruhe gelassen werden?
Das glaube ich nicht. Die vermissen manchmal klare Ansagen, auch wenn sie die im ersten Moment nicht verstehen. Ich bin absolut gegen so eine faule Entspannungspolitik in der Familie. Man kennt sich nicht, wenn man nicht gemeinsam Konflikte durchsteht. Erst knifflige Situationen schweißen zusammen.
Es scheint so zu sein, dass die Jugendlichen viel weniger gegen ihre Eltern rebellieren als früher. Erlahmt der Widerstandsgeist?
Die momentane Stimmungslage ist verwirrend. Es gibt Befunde, dass das Band zwischen den Generationen lockerer wird. Dass sich Jugendliche an Gleichaltrigen orientieren und ihnen die Eltern egal sind. Auf der anderen Seite sagen viele Kinder, dass sie ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern haben und gar nicht ausziehen wollen.
Trägt zu dieser Verwirrung auch bei, dass Eltern nicht erwachsen werden wollen und sich zum Beispiel wie Jugendliche anziehen?
Da fehlen natürlich Vorbilder, wenn die notwendigen Unterschiede zwischen den Generationen allmählich verschwinden. Als ich in der Pubertät war, fühlte ich mich zwar oft ganz toll, aber tief in mir drin wusste ich doch, dass mit mir nicht alles stimmte, dass ich noch unfertig war, mich noch entwickeln musste. Heute haben Jugendliche das Gefühl, dass sich eine Gesellschaft im Jugend- wahn nach ihnen richtet. Das führt nicht nur zu einer Art Selbstgefälligkeit, sondern auch zu Ent- täuschung. Ich vergleiche das immer mit einer Bergtour. Als Jugendlicher befindet man sich am Fuß des Berges und ist gespannt auf den Gipfel. Und dann kommen einem die Erwachsenen ent- gegen auf ihrem Rückweg vom Gipfel und erzählen, dass sich der Aufstieg nicht lohnt und sie lieber wieder dahin zurückkehren, wo die Jugendlichen sind. Das ist doch schlimm.
Viele Kinder haben schon die zweite Stiefmutter oder den dritten Stiefvater. Trotzdem wünschen sich die meisten Jugendlichen später selbst eine intakte Familie. Führen die vielen Scheidungen zur Sehnsucht nach einem fast kleinbürgerlichen Idyll?
Wenn die aus den Patchworkverhältnissen eine heile Familie wollen – bedeutet das dann, dass sich die anderen aus den heilen Familien nach dem wilden Durcheinander sehnen? Das halte ich für Unsinn. Wir träumen doch alle von der großen Liebe, vom familiären Frieden. Den kann es ja auch mit den Stiefeltern geben.
Bei den 68ern hieß es, dass auch die nach außen intakten Familien kleine Höllen sind. Dass hinter den Gardinen Gleichgültigkeit herrscht und grenzenloser Frust. Deswegen ist man ausgezogen, die Menschen davon zu befreien.
Und heute gibt es das große Durcheinander, es existieren ganz viele Lebensformen nebeneinander. Das halte ich aber nicht für problematisch. Das wird es nur, wenn es um die Familienpolitik geht: Welches Familienmodell will man eigentlich fördern?
Sagen Sie es uns.
Man kann ja nur eines mit Bestimmtheit sagen: Der Staat will, dass die Menschen mehr Kinder bekommen, schon aus wirtschaftlichen Gründen. Weil er sonst nicht weiß, wer für die Alten später mal die Rente zahlen soll. Für dieses Ziel gibt er irrsinnig viel Geld aus, mehrere Milliarden. Doch das Ergebnis ist gleich null. Seit Jahren ändert sich nichts. Die Deutschen bekommen nicht mehr Kinder. Und weshalb? Weil widersprüchliche Signale ausgesendet werden. Auf der einen Seite gibt es Unterstützung, wenn man zu Hause bleibt und sich um die Kinder kümmert, dann werden mehr Kitaplätze versprochen. Frauen, die arbeiten und Kinder bekommen wollen, werden noch viel zu wenig gefördert. Viele warten also lieber, bis sie beruflich so etabliert sind, dass sie keine Angst haben müssen, nach fünf Jahren Kinderpause wieder einen Job zu finden. Es ist doch sehr auffällig, dass in Frankreich und Skandinavien, wo Frauen mehr staatliche Unterstützung bei der Kindererziehung erhalten, die Geburtenrate viel höher ist. In Deutschland müssen Frauen nach wie vor ihre beruflichen Ambitionen zurückstellen.
Viele Paare trennen sich, wenn sie Kinder bekommen haben. Frisst der Alltag die Liebe?
Früher hat der Mann seine Frau irgendwann Mutti genannt, da wusste man: Es ist eigentlich vorbei, auch wenn man zusammenbleibt. Es gibt keine Gemeinsamkeit jenseits der Tatsache, dass man zusammen Kinder hat. Auch wenn sich die Paare heute nicht mehr Mutti und Vati nennen würden, wird man doch oft aufgesogen vom Alltag. Kinder sind vereinnahmend und zeitaufwendig, sodass sich manche Eltern irgendwann fragen, wann sie eigentlich das letzte Mal zusammen im Bett waren. Dem Kinderhaben ist das Normale abhandengekommen. Ich kenne Eltern, die wochenlang darüber grübeln, in welche Schule sie die Kinder schicken. Das wird natürlich mühsam, zumal das ja nur eine Entscheidung unter vielen ist. Ich plädiere für mehr Gelassenheit und Konzentration auf das Wichtige. Sich um die Kinder kümmern heißt einfach: da sein, wenn sie einen brauchen, quatschen, Vorbild sein. Der Rest wird sich zeigen. Das Kind wird es schon schaffen.
Wie kommt es, dass Eltern immer älter werden?
Es gibt so eine Art Verschiebebahnhof der Wünsche: Der Großteil der Menschen will eine Familie, aber viele sagen auch, dass ihnen der Beruf wichtig ist. Dann arbeiten sie erst einmal, weil sie denken, dass sie ja immer noch eine Familie gründen können. Ich entscheide mich also nicht bewusst gegen die Familie, ich schieb’s nur raus. Das ist sehr bequem, weil man sich nicht entscheiden muss. Wenn ich aber nur ein Kind bekommen will, wenn die Situation perfekt ist, bekomme ich vielleicht nie eins.
Vielleicht will man auch nicht, weil das Land nicht wirklich familienfreundlich ist. Die Menschen strahlen einen ja nicht gerade an, wenn man mit vier Kindern um die Ecke kommt. Und an manchen Spielplätzen stehen sogar Öffnungszeiten.
Stimmt. Da sind andere Länder familienfreundlicher. Zum Beispiel die USA, wo die Geburtenrate höher ist, obwohl für die staatliche Versorgung viel weniger Geld ausgegeben wird. Ich denke, dass man dort in Kindern eher neue Menschen sieht, die die Gesellschaft voranbringen. Die etwas machen, womit man noch nicht gerechnet hat. Das wird positiver aufgenommen als bei uns.
Halten wir mal fest: Früher war die Familie Erziehungsanstalt und ein Raum, der einem half, auch wirtschaftlich zu überleben. Heute scheint es eine Lebensform zu sein, in der sich die meisten zwei sehr emotionale Wünsche erfüllen wollen: Geborgenheit und Selbstverwirklichung. Klingt beides schwierig.
Bereits im Bürgertum haben sich starke Hoffnungen auf die Familie gerichtet. Nur beim Adel war das anders: Da gab es die Ehefrau und die Mätresse, also die biologische Reproduktion und das Emotionale. Es gibt bis heute in vielen Kulturen eine Entkopplung. In der bürgerlichen Welt hat man versucht, das zusammenzubringen. Wenn es gelingt, ist es besonders gut, wahrscheinlich toller als alles andere. Wenn es schiefgeht, liegt eben alles in Scherben.
Wie bekommt man denn die richtige Work-Life- Balance hin?
Wenn ich das schon höre. Ich hasse dieses Wort. Es heißt ja, dass ich nicht lebe, wenn ich arbeite, und umgekehrt. Okay, ich nehm’s zurück. Wie bekommt man die Doppelbelastung in den Griff? Ich würde viel lieber von Doppelerfüllung sprechen, denn die Konstellation Familie/Arbeit hätte durchaus das Zeug dazu. Zufriedenheit im Job führt zu Zufriedenheit in der Freizeit. Umgekehrt kann man in der Familie Kraft tanken. Das muss jeder Einzelne erkennen, und die Politik muss die Möglichkeiten für diese Erkenntnis schaffen.