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„Putin lässt uns dastehen wie Idioten“

Korruption, ein möglicher Giftanschlag, Herrschaft auf Lebenszeit: Wie stehen junge Russinnen und Russen zu Wladimir Putin?

Update, 4. Februar: Der russische Oppositionsführer Alexej Nawalny, der im August Opfer eines Giftanschlags geworden war, wurde zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt. Der Kreml behauptet, Nawalny habe gegen Auflagen aus einem früheren Strafverfahren verstoßen, während er sich in Deutschland vom Attentat erholte. In ganz Russland (also elf Zeitzonen!) protestieren Zehntausende für die Freilassung Nawalnys – oder gegen Wladimir Putin? Ekaterina Venkina hat direkt nach dem Giftanschlag gefragt, wie junge Russi/-nnen zu ihrem Staatschef stehen.

„Meiner Meinung nach brauchen junge Menschen das Wahlrecht überhaupt nicht“, sagte Michail Leontjew, Pressechef beim russischen Ölriesen Rosneft und regierungstreuer Journalist, Ende Juli dem Sender Vesti FM. „Jung zu sein ist ein schmerzhafter Zustand, der mit dem Alter vergeht.”

Leontjews Aussage sorgte für Aufsehen. Gerade, weil niemand genau sagen kann, wie junge Russinnen und Russen selbst dazu stehen. Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) hat sich das genauer angesehen: Laut der „Jugendstudie Russland 2020“ interessieren sich knapp 60 Prozent aller befragten Russinnen und Russen im Alter von 14 bis 29 Jahren gar nicht oder kaum für Politik, nur 26 Prozent vertrauen der Regierung, dem Präsidenten Wladimir Putin hingegen immerhin 42 Prozent. Bleibt ihnen nach der großen Verfassungsreform also nichts anderes übrig, als sich mit der andauernden Herrschaft Putins abzufinden?

Die politischen Optionen in Russland schwanken derzeit zwischen zwei Extremen: Während konservative Akteure die jungen Menschen gern als patriotisch und machttreu darstellen, hofft die FES, dass sich eine neue russische Generation stärker gegen das autokratische Verhalten der Regierung wehren wird. Ob die Ereignisse im benachbarten Belarus, wo Hunderttausende für freie Wahlen demonstrieren, und der Giftanschlag auf Putins Erzkritiker Alexej Nawalny antiautoritäre Gefühle nähren können, muss sich zeigen. Wie junge Russen und Russinnen heute zu Putins „neuer Ära“, zum Fall Nawalny und politischen Veränderungen stehen? Wie haben vier gefragt – bei denen von politischer Gleichgültigkeit nichts zu spüren war.

„Wladimir Putin hat wirklich viel für das Land getan. Aber seit er wieder Präsident ist, dreht sich alles im Kreis“

Jewgenija, 22, studierte Internationale Wirtschaft in Moskau und arbeitet bei Bayer als Multichannel-Managerin. Sie kommt aus Lipezk.

„Ich wurde 1998 geboren, kurz bevor Putins große Karriere in der Politik begann. Seine ersten beiden Amtszeiten als Präsident waren recht gut. Der Mann hat wirklich sehr viel für das Land getan: Wir haben einen starken Staat und unsere Schulden zurückgezahlt. Aber seit dem Ämtertausch mit Dmitri Medwedew, der Putin (nach einer Amtszeit als Regierungschef, Anm. d. Red.) wieder zum Präsidenten machte, dreht sich alles im Kreis.

Mit der Verfassungsänderung hatte ich das Gefühl: Alles ist entschieden, nichts kann mehr dagegen getan werden. Aber ich wollte zumindest meiner Bürgerpflicht nachkommen und habe gegen die Änderungen gestimmt. Ich dachte wirklich, dass der Präsident bei einer so umfassenden Verfassungsreform vorsichtiger agieren würde. Aber jetzt ist sie entschieden und Putin lässt uns alle wie Idioten dastehen. Weitere 16 Jahre mit ihm fühlen sich an wie eine lebenslange Freiheitsstrafe auf Bewährung.

Die Situation Nawalnys will ich hingegen nicht eindeutig beurteilen. Die Vergiftung eines Oppositionellen kann für die regierungsnahen Kräfte nicht gewinnbringend sein, weil sie offensichtlich zu Sanktionen führt und das Ansehen Russlands in der Welt verschlechtert. Andererseits sind jetzt Regionalwahlen in Russland, und das Team von Nawalny hat hart gearbeitet, um in diesen Regionen die Mehrheit zu erlangen.“

„Es ist schwierig, dem Präsidenten nicht zu vertrauen: Er wurde rechtmäßig gewählt und ist beliebt“

Viktor, 28, studierte Elektroenergietechnik in Jekaterinburg und arbeitet derzeit als Ingenieur.

„Der Fall Nawalny hat uns aufgewühlt. Überall hört man widersprüchliche Aussagen und Hypothesen. Bis zum Abschluss der Untersuchung will ich das nicht bewerten. Ich hoffe natürlich auf die Kompetenz der deutschen Ärzte für Nawalnys Rehabilitation.

Zur Abstimmung selbst bin ich nicht gegangen. Zum einen, weil die meisten der Änderungen bereits durch Bundesgesetze abgedeckt waren, also keine Notwendigkeit bestand, sie in die Verfassung aufzunehmen. Zum anderen, weil ich mit dem Format nicht einverstanden bin. Eine Abstimmung muss klassisch sein: eintägig und unter Aufsicht der Bezirkswahlkommissionen, der Beobachter und der Presse. Wie soll ich mit voller Überzeugung meine Stimme abgeben, wenn andere unbeobachtet in Kofferräumen und auf Baumstümpfen abstimmen?

Obwohl ich mit dem Abstimmungsprozess unzufrieden bin, ist es schwierig, dem Präsidenten nicht zu vertrauen. Er wurde rechtmäßig gewählt und ist viel beliebter als die Parteien und Parlamentsmitglieder. Putin ist ein berühmter Mann. Aber seine Arbeit könnte in einigen Aspekten effektiver sein – vor allem in der Wirtschaft. Der Westen war immer ein Partner für Russland. Vor allem zu Deutschland haben wir enge Beziehungen. Durch die Sanktionen wird es wirtschaftlich etwas schwieriger. Russlands Zukunft ist unberechenbar.“

„Die Vergiftung von Alexej Nawalny ist monströs, aber auch bezeichnend: Alle wissen, was da passiert ist“

Kristina Bykova, 28, studierte humanistische Informatik und vermittelt an einer Rednerschule in Tomsk, wie man wissenschafliche Informationen kommuniziert.

„Ich darf in Russland noch nicht abstimmen, weil ich erst vor sechs Jahren aus Kasachstan zu meinem Mann nach Tomsk gezogen bin. Ich warte auf die russische Staatsbürgerschaft.

Die Verfassungsänderungen neutral zu sehen, fällt mir schwer. Ich persönlich lehne sie ab. Manche sagen, dass wir eine der aktivsten Wahlmanipulationen erlebt haben, die man je gesehen hat. Man konnte Wähler auf ihrem Hof oder in einer Bank abstimmen sehen, wo es keine Wahlbeobachter gab. Das Verfahren dauerte eine ganze Woche. Und niemand hat beobachtet, was nachts in den Wahllokalen geschah.

Mein Vertrauen in Präsident Putin ist ohnehin seit langem untergraben. Vor zwei Jahren hat er noch versichert, keine Verfassungsänderungen vorzunehmen. Ich mag es nicht, wenn Politiker ihre Meinung ändern. Jetzt die Vergiftung von Alexej Nawalny. Das ist monströs, aber auch bezeichnend: Alle wissen, was da passiert ist, aber wir können nichts dagegen tun. Ich finde, wir brauchen einen Machtwechsel.

Julia Nawalny (Foto: Kay Nietfeld / picture alliance/dpa )
Staatschefs, Dissidenten und Despoten: Die Charité behandelt immer wieder Patienten, die diplomatische Konflikte mit nach Berlin bringen. Hier (links) kommt gerade Julia Nawalny an, die Ehefrau des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny (Foto: Kay Nietfeld / picture alliance/dpa )

Ich interessiere mich für Politik und kann mir eine politische Karriere vorstellen. Wenn ich die russische Staatsbürgerschaft habe, kann ich schon bei der nächsten Einberufung der regionalen Duma (Regionalparlament, Anm. d. Red.) als Abgeordnete kandidieren.

Aber erst mal will ich mich hier in Tomsk weiter dafür einsetzen, wissenschaftliches Denken populärer zu machen, damit die Menschen weniger anfällig für Verschwörungstheorien sind. Ich will Vorträge halten, Festivals organisieren und für die Rechte der Frauen kämpfen. Meine Zukunft sehe ich ausschließlich in Russland. Ich will nirgendwo anders hingehen.“

„Dass Putins Amtszeiten auf Null gesetzt wurden, wurde kaum berichtet. Überall war nur von steigenden Renten und Tierschutz die Rede“

German Nechaev, 23, studiert Politikwissenschaft in Moskau und arbeitet als Redakteur bei der Studentenzeitschrift DOXA.

„Ich habe mein Stimmrecht genutzt und gegen die Verfassungsänderungen gestimmt. Das Land wird immer autoritärer, ich vertraue weder den Behörden noch dem Präsidenten. Die Menschen, die in unserem Land regieren, sind Parteifunktionäre, die in der Ära der Sowjetunion ausgebildet wurden. Sie sind bestrebt, alle Wahlmöglichkeiten zu eliminieren und sicherzustellen, dass keine Alternativen zu Putin denkbar sind. Dass Putins Amtszeiten auf Null gesetzt wurden, wurde in den Nachrichten kaum berichtet. Überall war nur die Rede von steigenden Renten und besserem Tierschutz. Gleichzeitig war es für die Opposition wegen der Corona-Krise schwieriger, die Menschen zur Abstimmung zu bewegen, da das ihre Gesundheit gefährden könnte.

Alexej Nawalny wurde vergiftet, zumindest ist das meine Wahrnehmung. Zu beurteilen, wer das veranlasst hat und welchen Vorteil er darin sah, ist aber pure Kaffeesatzleserei. Ganz gleich, wie diese Geschichte endet (und ich hoffe, dass sie gut endet für Nawalny): Er ist ein Symbol des demokratischen Protests in Russland. Wenn der Giftanschlag die Opposition in Russland brechen und Proteste wie in Belarus unterbinden sollte, glaube ich, dass er genau das Gegenteil bewirkt hat.

Ob ich mich persönlich in Russland gefährdet fühle? Während eines Protests im Juli 2019 (in Moskau gegen den Ausschluss von Oppositionskandidaten von der Kommunalwahl, Anm. der Redaktion) bin ich aus der U-Bahn heraus festgenommen worden. Das Gericht hat mich zu einer Geldstrafe verurteilt. Das war Zufall. Sollte die Polizei irgendwann einen Anlass haben, mich politisch ernsthaft zu überprüfen, könnte meine Sicherheit gefährdet sein. Vielleicht muss ich Russland irgendwann verlassen. Auch wenn mir nicht gefällt, was derzeit in dem Land geschieht, hoffe ich auf eine bessere Zukunft.“

Das Titelbild zeigt Proteste gegen die Verfassungsreform am Puschkin-Platz in Moskau. (Foto: Sefa Karacan/Anadolu Agency via Getty Images)

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