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Land der begrenzten Möglichkeiten

In der indonesischen Provinz Aceh gilt die Scharia. Kiffen, Flirten oder Fummeln ist verboten. Jugendlichen, die es trotzdem machen, droht Prügelstrafe

Salim Indri sitzt auf einer sonnengegerbten Holzbank vor dem Café seiner besten Freunde, spätabends in Banda Aceh, Nordsumatra in Indonesien. Er überschlägt die Beine seiner engen schwarzen Jeans. Seine Freunde tragen edle Lederschürzen, die Haare zu einem Dutt auf dem Kopf gebunden, und servieren ihren Gästen stark gezuckerte Milchkaffees. 

Drei Gäste spielen „Game of Thrones“ auf ihren Handys, andere tippen auf ihren MacBooks. Auf dem Kopf tragen sie Schirmmützen mit Hanfblättern drauf – aber auch Mützen mit dem muslimischen Glaubensbekenntnis in geschwungener arabischer Schrift. Vor dem Café stehen tiefergelegte Toyota-Kombis mit kleinen breiten Reifen. Es sieht fast ein wenig aus wie in Berlin-Kreuzberg. Nur Frauen trifft man hier kaum, ab 22 Uhr dürfen sie nur noch in Begleitung eines männlichen Verwandten in Cafés gehen. Sie tragen meist einen Mundschutz, farblich passend zum Hijab, dazu weite Kleider. Jeans sind für sie verboten. 

Salim Indri heißt eigentlich anders, doch Religion ist für ihn ein riskantes Thema, deswegen möchte er nicht erkannt werden. Salim nippt an seinem schwarzen Kaffee und blickt in die Sterne. Geht Salim in die Moschee? Er lacht verlegen. Na ja, nicht so oft. 

 

Banda Aceh, 250.000 Einwohner, ist die Hauptstadt der Provinz Aceh. Hier gilt die Scharia, islamisches Recht, das den Anspruch erhebt, sich aus dem Koran ableiten zu lassen. Alkohol, Sex oder Küssen ohne Trauschein, homosexuelle Kontakte – verboten. Wer sich nicht daran hält, dem droht Cambuk, die Prügelstrafe. Wenn Jugendliche in den Coffeeshops beim Pornogucken erwischt werden, wird der Ortschaft das WLAN abgestellt. Die Regeln werden von der staatlichen Scharia-Polizei kontrolliert, die am Abend auf Trucks mit offener Ladefläche durch die Stadt patrouilliert. 

Zerrissen zwischen Tradition und dem, was sie im Internet sehen

FAQ: Was ist die Scharia?

Salim hat ein gespaltenes Verhältnis zur Scharia. „Die Scharia ist Teil unserer Kultur, und wir sind stolz, dass wir sie haben.“ Wie genau sie in Aceh angewendet wird, findet er aber unfair. „Mir wäre eine Scharia wie in Saudi-Arabien lieber.“ Das heißt für ihn auch: dass Diebstahl etwa mit dem Abschneiden der Hände bestraft werden sollte. In Saudi-Arabien ist die Scharia auch Gesetzbuch, in Aceh umfasst sie nur „sittenwidriges“ Verhalten, das sich vor allem auf Kleidung, Sexleben und Drogen bezieht – nicht aber auf Verbrechen wie Diebstahl oder die in Indonesien stark verbreitete Korruption. „Wenn ein Pärchen rummacht, ist es doch deren Sache, sie müssen sich vor Gott rechtfertigen.“ Außerdem könnten Familien auch zur Selbstjustiz greifen: zum Beispiel, indem sie Abwasser, das vor den Wohnhäusern in Banda Aceh entlangläuft, über unverheiratete Pärchen kippen. 

Und dann ist da noch ein anderer Salim, „ein weiteres Herz, das in meiner Brust schlägt“. Nach der Ausbildung im islamischen Internat zog er zum Studium nach Bandung in der Nähe der Hauptstadt Jakarta, in der das Nachtleben pulsiert. Dort hatte er Freundinnen, dort ging er in Clubs. Wenn er abends unterwegs war, mit einem Bier in der Hand, hatte er immer Angst, er könnte Verwandten begegnen, die ihn bei seiner Familie verpetzen. 

 

Zurück in Banda Aceh, ist das Leben langweilig und frustrierend. Karaokebars oder Theater werden so gut wie nie genehmigt, Kinos sind als small hotels verschrien und verboten, weil die jungen Leute im Dunkeln fummeln, sagt Salim. Wie Salim geht es vielen jungen Acehnesen. Sie fühlen sich zerrissen zwischen den Vorstellungen ihrer Eltern, ihrer Religion, der Scharia und all dem, was sie im Internet sehen.

„Die Strafe verliert ihre Wirkung, wenn sie nicht mehr in der Öffentlichkeit stattfindet“

Viele fahren wochenends in die Hauptstadt der liberaleren Nachbarprovinz, nach Medan, wo sie sich in Hotels mit Freundinnen treffen und gemeinsam in die Clubs der Stadt gehen. Wie passt das mit ihrem Glauben zusammen? „Wir sind eben opportunistisch“, sagt Salim. Außerhalb Acehs sei der Konsum von Alkohol erlaubt – und damit in Ordnung. Mittlerweile ist ein regelrechter Pendelverkehr entstanden. Weil in Banda Aceh Feuerwerke verboten sind, fahre an Silvester gleich die ganze Stadt nach Medan. Zumindest jener Teil, der es sich leisten kann. 

Fast drei von vier indonesischen Muslimen begrüßen einer Studie zufolge die Scharia in ihrem Land. Dass gerade in Aceh islamisches Recht gilt, liegt an Menschen wie Mustafa Woyla. Der 35-jährige Religionslehrer läuft hektisch über den Campus eines islamischen Internats, weit vor den Toren Banda Acehs. Hier steht eine Moschee neben der anderen, manchmal ist der erste Stock noch im Bau, dann liegt das Megafon des Muezzins zwischen den Stahlträgern. 

Mustafa Woyla ist nicht nur Lehrer, sondern auch Sprecher der FPI in Aceh, der „Islamischen Verteidigungsfront“, eine Bewegung der islamistischen Muslimbrüder mit Kontakten nach Saudi-Arabien. Während eines Stromausfalls sitzt Woyla im Dunkeln eines Arbeitszimmers im Internat, das Notstromaggregat piept alle fünf Sekunden. Er erklärt: Das Hauptziel der rund 5.000 aktiven Mitglieder sei es, die Scharia gegen jene zu verteidigen, die das islamische Recht brechen. Dafür würde die FPI „Konflikte in der Gemeinschaft“ an ihre Partner bei der Scharia-Polizei melden. „Wenn die Scharia-Polizei untätig bleibt, machen wir Druck.“

Vom Tsunami zur Scharia?

Als vor 15 Jahren der Tsunami über Aceh hereinbrach und Hunderttausende starben, habe die FPI viel Gutes getan, sagt Woyla. Zum Beispiel Tote eingesammelt und bestattet sowie Häuser wiederaufgebaut. Diese Menschlichkeit habe ihn begeistert. Damals kämpfte die militante „Bewegung Freies Aceh“ (GAM) um Unabhängigkeit von Indonesien. Für Woyla war dieser bewaffnete Kampf ein Zeichen dafür, dass die Region vom islamischen Weg abkommt. Eine schlimme Vorstellung für Woyla, wo doch der Tsunami eine direkte Strafe Gottes gewesen sei. 

Das Strafrecht in Indonesien orientiert sich eigentlich am niederländischen Modell. 2005, ein Jahr nach der Katastrophe und nach langwierigen Verhandlungen mit der GAM, sprach die indonesische Regierung der Provinz Aceh aber nicht nur Autonomie, sondern in einigen Rechtsbereichen auch die Scharia zu – auch auf Druck der FPI. 

Ein Instrument, um die Scharia durchzusetzen, ist die öffentliche Prügelstrafe. Gerade streiten die Behörden in Aceh aber darum, ob Cambuk weiterhin öffentlich stattfinden soll oder nur noch hinter Gittern. Zu groß ist der Imageschaden durch Berichte in westlichen Medien, fürchten die Gouverneure von Aceh. 

 

„Die Strafe verliert ihre Wirkung, wenn sie nicht mehr in der Öffentlichkeit stattfindet“, sagt Woyla. Doch im Grunde sei er zuversichtlich, dass sie selbst dann noch eine Wirkung haben wird: „Irgendjemand wird filmen und die Videos in sozialen Medien teilen. Und dann sieht es jeder. Inschallah“, so Gott will, sagt Woyla.

Eine Gegenbewegung zur FPI in Aceh ist ein loses Bündnis von etwa 50 AktivistInnen, die sich „Gesellschaft zur Pflege der Scharia“ nennen. Eine von ihnen ist Maya, 42, die hier nicht mit echtem Namen auftauchen darf, weil sie als Christin vor ein paar Jahren wegen ihrer Kritik an der Scharia verfolgt wurde. 

Maya trägt Brille und Kopftuch und sitzt in einem kleinen Coffeeshop in Banda Aceh. Sie sagt: „Wir wollen Bildung statt Bestrafung.“ Auch im Islam gehe es um Vergebung, darum, den „guten Charakter des Menschen zu fördern“. Die Bilder der öffentlichen Bestrafung würden völlig falsche Signale senden. Zum einen erlebten junge Menschen Gewalt als Problemlösung, zum anderen überkäme sie in der Pubertät der „religiöse Schock“: „Sie fahren nach Medan und tun so, als sei ein anderes Ich hingefahren. Wie sollen sie lernen, mit den Verlockungen der Welt umzugehen, wenn sie nur Bestrafung kennen?“, fragt Maya. Außerdem kosten die teuren Auspeitschungen die Behörden viel Geld, das in der Bildung fehle. Denn Bühne, Büfett und religiöse Richter wollen bezahlt werden.

„Wir hassen Aceh, können hier aber nicht so einfach weg“ 

Tagsüber trägt André eine blaue Weste. Er ist Parkwächter: Für ungefähr einen Euro pro Stunde weist er mit Trillerpfeife Autos im zähen Verkehr ein und aus. Abends ist er Punk. Sein bester Freund Pita bettelt bis zum gemeinsamen Treffen mit Gitarre in der Hand um ein paar Cent vor den Coffeeshops. „Wir wollen Frieden und gute Laune verbreiten“, sagt er. 

 

Bei den Beamten sorgt ihr Verhalten eher für schlechte Laune. Punk ist die einzige Subkultur in der Region. Ihre Irokesen müssen André und Pita unter Schirmkappen verstecken, damit ihnen die Scharia-Polizei nicht wieder die Haare rasiert. André zeigt auf seine gespaltenen Ohrläppchen: Die Scharia-Polizisten hätten ihm die Ringe herausgerissen. 

Nachts treffen sich André, Pita und die anderen Punks an einer vermüllten Uferpromenade. Sie trinken Brandy, den sie den Batak, einem christlichen Volksstamm, abgekauft haben, und kiffen. Die Provinz ist in Indonesien bekannt für ihr Cannabis, das aus den Bergen seinen Weg in das ganze Land findet – als Erstes vorbei an den jungen Acehnesen. 

„Wir hassen Aceh, können hier aber nicht so einfach weg“, sagen die Punks. Für die Männer der Scharia-Polizei haben sie nur ein Rotzen auf den Boden übrig: „Jene, die das islamische Recht ausführen, brechen die Gesetze als Erste“, sagen sie. 

Später in der Nacht werden noch drei Scharia-Polizisten an das Ufer des Flusses kommen. Sie werden mit stechendem Blick ihre Ärmel hochkrempeln und angriffslustig ihre Lippen zusammenpressen. Passieren aber wird nichts. Manchmal ist es eine gute Versicherung, einen Reporter aus Europa dabeizuhaben.

Titelbild: Ulet Ifansasti/Getty Images

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.