Seit Jahren streiten Ärztinnen und Ärzte, Politikerinnen und Politiker, Kommunen und Jugendämter über die Frage, ob man mit medizinischen Methoden zweifelsfrei das Alter einer Person feststellen kann – und ob solche Tests verpflichtend bei der Registrierung von Flüchtlingen angewendet werden sollen, um deren Altersangaben zu überprüfen.
Warum wird wieder über Altersfeststellung diskutiert?
Auslöser der jüngsten Debatte war eine tödliche Messerattacke im rheinland-pfälzischen Kandel im Dezember. Ein minderjähriger Flüchtling soll seine Exfreundin mit einem Messer erstochen haben. Nach der Tat wurden Zweifel am Alter des mutmaßlichen Täters laut: Er soll damals 15 Jahre alt gewesen sein. Die ermittelnde Staatsanwaltschaft gab ein
medizinisches Gutachten in Auftrag, das den Beschuldigten auf unter 21, mindestens aber auf 17,5 Jahre schätzte. Und somit deutlich älter, als dieser gegenüber dem Jugendamt angegeben hatte. Daraufhin forderten vor allem Politiker von CDU, CSU und AfD, die medizinische Altersfeststellung zumindest im Zweifelsfall gesetzlich vorzuschreiben. In der Vergangenheit hatten das auch Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sowie dessen Vorgänger Thomas de Maizière (CDU) gefordert. Eine gesetzliche Regelung für die Altersfeststellung gibt es bereits.
Warum sollten Asylsuchende behaupten, dass sie unter 18 sind?
Minderjährige genießen nach deutschem Recht einen besonderen Schutz. Das gilt auch für Geflüchtete – besonders wenn sie „unbegleitet“ sind, also ohne einen verantwortlichen Erwachsenen eingereist oder allein zurückgelassen worden sind. Diese unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge – oft kurz UMF genannt – wohnen statt in Sammelunterkünften bei Pflegefamilien oder in Wohngruppen mit Gleichaltrigen, erhalten einen Vormund, werden von Sozialpädagogen betreut und in Asylfragen und bei Ämtergängen unterstützt. Und: Unbegleitete Minderjährige dürfen in der Regel
nicht abgeschoben werden – selbst nicht in andere EU-Länder. Das haben sowohl der Europäische Gerichtshof (2013) als auch das Bundesverwaltungsgericht (2015) klargestellt. Mit Vollendung des 18. Lebensjahrs erlischt jedoch das Anrecht auf Jugendhilfe und Abschiebeschutz. Aus diesem Grund, so der Verdacht, würden manche erwachsene Flüchtlinge ihr wahres Alter bewusst niedriger angeben.
Wie häufig kommt das tatsächlich vor?
Schwer zu sagen. Exakte Zahlen gibt es nur in jenen Fällen, in denen Jugendämter die Selbstangaben der Asylbewerber in Zweifel gezogen und die Landesbehörden diese Zahlen erhoben haben. So wies das niedersächsische Sozialministerium beispielsweise zwischen November 2015 und Januar 2017 bei 157 Flüchtlingen eine ärztliche Untersuchung zur Altersfeststellung an, 90 von ihnen seien demzufolge entgegen ihren Angaben bereits volljährig gewesen. Im Saarland wurden zwischen Anfang 2016 und März 2018 über 500 Personen aus dem gleichen Grund geröntgt: Rund ein Drittel von ihnen wurde als volljährig eingeschätzt. Ähnlich sind die Zahlen des Hamburger Landesbetriebs Erziehung und Beratung, einer Einrichtung der Sozialbehörde: Ein Bruchteil der minderjährigen Flüchtlinge in Hamburg wurde untersucht. Von diesen 91 im Jahr 2017 untersuchten Personen wurde bei 51 ein Alter über 18 Jahre bestimmt.

Nicht gerade unumstritten: das Röntgen ohne medizinische Notwendigkeit
(Foto: Felix Kästle/dpa)Wie stellt man das Alter überhaupt fest, und wie ist die Feststellung gesetzlich geregelt?
Für die Altersbestimmung junger Flüchtlinge sind die Jugendämter zuständig. Das Verfahren regelt seit 2015 das Achte Sozialgesetzbuch, genauer das Kinder- und Jugendhilfegesetz. Liegen keine Ausweispapiere vor, soll das Jugendamt das Alter des Flüchtlings mittels einer „Inaugenscheinnahme“ schätzen. Dazu begutachten zum Beispiel zwei Mitarbeiter des Jugendamts während eines Gesprächs die mentale Reife sowie die körperliche Erscheinung der Person. Ziehen die Mitarbeiter die Angaben des Asylbewerbers in Zweifel, kann das Jugendamt eine „ärztliche Untersuchung“ anordnen. Damit muss der Betroffene jedoch einverstanden sein. Möglich sind dann eine rein körperliche Untersuchung, etwa die Begutachtung der Zahnreife. In Berlin und Hamburg dürfen dazu auch die Geschlechtsorgane begutachtet werden. Eine weitere Methode ist die Vermessung der Handwurzel, des Gebisses oder des Schlüsselbeins per Röntgenstrahlen. Im Landkreis Hildesheim wurde bei einem afghanischen Flüchtling zur Altersbestimmung sogar einmalig ein DNA-Test durchgeführt. Bei allen Methoden müssen Asylbewerber und ihre gesetzlichen Vertreter jedoch vorab über mögliche gesundheitliche Risiken aufgeklärt werden und der medizinischen Altersfeststellung zustimmen. Weigert sich die Person, kann das Jugendamt Leistungen der Jugendhilfe stoppen. Die Altersfeststellung muss eindeutig dokumentiert werden.
Wie exakt sind die unterschiedlichen Methoden?
Darüber wird kräftig gestritten. Der Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, das Deutsche Kinderhilfswerk und die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges – Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW) bestreiten, dass es medizinisch möglich ist, das Alter sicher festzustellen. Die Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik (AGFAD) der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin widerspricht dieser Einschätzung. Man könne zwar nicht das exakte Alter bestimmen, sagte der AGFAD-Vorsitzende Andreas Schmeling, der „zweifelsfreie Nachweis der Volljährigkeit“ sei jedoch möglich. In einer aktuellen Stellungnahme der Rechtsmediziner heißt es: Die Begutachtung stelle „die einzige Möglichkeit“ dar, eine angezweifelte Minderjährigkeitsbehauptung zuverlässig zu widerlegen. Neben der Vermessung des Handskeletts empfehlen sie eine zusätzliche Untersuchung der Schlüsselbeine. Die Bundesregierung indes hält die körperlich-medizinischen Tests zur Altersfeststellung für ungenau. So heißt es in einer Antwort des Bundesfamilienministeriums auf eine Kleine Anfrage der Linkspartei von Februar: „Durch keine Methode der Altersfeststellung ist es möglich, das Lebensalter eines Menschen genau zu ermitteln.“ Zur Feststellung der Minder- beziehungsweise Volljährigkeit einer Person empfiehlt das Ministerium daher eine Kombination „aus psychologischen, pädagogischen und medizinischen Methoden“.
Was gilt an flächendeckenden Alterstests gegen den Willen der Betroffenen als problematisch?
Derzeit setzt nur das Saarland bei der Altersbestimmung grundsätzlich auf Röntgentests. Für flächendeckende Tests, die auch gegen den Willen der Betroffenen angeordnet werden können, müssten die Gesetze geändert werden. Dagegen gibt es aber große Widerstände. Flächendeckende Tests zur Feststellung des Alters verletzten das Recht auf körperliche Unversehrtheit, sagt etwa der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery: „Wenn man das bei jedem Flüchtling täte, wäre das ein Eingriff in das Menschenwohl.“
Titelbild: Mauricio Lima/The New York Times/laif