Wenn Rudolf Schmid aus dem Fenster seines Zukunftslabors sieht, blickt er auf die Vergangenheit. Auf der Straßenseite gegenüber steht der Stammsitz seines Arbeitgebers. Ein knapp hundert Jahre alter Bau, der einer Villa eher gleicht als einem Versicherungsgebäude, mit Doppelsäulen, steinernen Statuen über dem Eingangsportal und einem Schriftzug in Gold: »MVENCHENER RVECKVERSICHERVNGS GESELLSCHAFT«. Seit 1913 betreibt die Munich Re, wie das Unternehmen heute heißt, in den gelben Mauern das Geschäft mit dem Risiko: Sie gibt Versicherungen an Konzerne aus, die ihrerseits Gebäude gegen Zerstörung versichern oder Fabriken gegen Stromausfall, damit sich die Kosten eines Schadensfalls, wenn er tatsächlich eintritt, auf mehrere Schultern verteilen.

Schmids Arbeitsplatz liegt in dem kantigen Kasten aus Glas und Stahl auf der anderen Seite der Königinstraße, unweit des Englischen Gartens in München. Von außen sehen die Büros dort aus wie gestapelte Container. Schmid ist einer der Männer, die die Firma davor bewahren sollen, es mit dem Risiko zu übertreiben: Der 49-Jährige ist Risk Manager, seine Aufgabe ist es, in die Zukunft zu schauen. Die Abteilung, in der Schmid seit sieben Jahren arbeitet, ist so alt wie das Unternehmen selbst. Seit seiner Gründung war eine der wesentlichen Grundlagen des geschäftlichen Erfolgs, den Gang der Dinge vorhersagen zu können. Die Angaben darüber, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein bestimmtes Ereignis eintritt und welche Schäden dabei entstehen können, bestimmen darüber, was die Munich Re überhaupt versichert und wie hoch die Prämien sind. Die Maxime lautet: aus Risiken Werte schaffen.

Wie kann man wissen, wann der Fluss übers Ufer tritt?

Das funktioniert aber nur, wenn die Risiken genau kalkuliert sind. Das Geschäftsprinzip eines Rückversicherers besteht kurz gesagt darin, den Versicherungskonzernen ihr Risiko abzukaufen. Konkret: Der Besitzer einer Industrieanlage, die an einem Fluss gelegen ist, versichert seine Fabrik gegen Hochwasser. Das Unternehmen, bei dem er diese Versicherung abgeschlossen hat, versichert sich wiederum bei der Munich Re dagegen, dass der Schaden tatsächlich eintritt und es so viel Geld auszahlen muss, dass es selbstdaran zerbricht. Um die Kosten einer solchen Rückversicherung festzulegen, gehen etliche Daten in die Berechnung ein: Wie wahrscheinlich ist es, dass der Fluss an dieser Stelle über die Ufer tritt? Wie oft ist das in den vergangenen Jahrzehnten schon geschehen? Wie viel Risiko ist der Erstversicherer selbst bereit zu tragen? Die Munich Re definiert daraus einen sogenannten Risikoappetit, das heißt, sie macht dem Erstversicherer ein konkretes Angebot. Geht der darauf ein, kommen beide ins Geschäft.

Die Munich Re hat den Versicherungskonzernen in den vergangenen Jahrzehnten so großen Appetit gemacht, dass sie zum größten Rückversicherer der Welt aufgestiegen ist. Im vergangenen Jahr machte sie nach vorläufigen Berechnungen einen Gewinn von knapp 2,6 Milliarden Euro, eine Milliarde mehr als im Vorjahr. Das lag allerdings weniger daran, dass Schmid und seine Mitarbeiter ein außergewöhnlich sicheres Händchen gehabt hätten mit ihren Risikoprognosen. Der Grund war vielmehr: 2009 verliefen die Naturkatastrophen vergleichsweise glimpflich, auch wenn mit 850 mehr Katastrophen registriert wurden als im langjährigen Durchschnitt – aber es gab halt weniger große. Vor fünf Jahren sah das zum Beispiel ganz anders aus: Nachdem der Hurrikan Katrina New Orleans in Apocalypse City verwandelt hatte, summierten sich die im Jahr 2005 weltweit entstandenen Schäden auf 2,6 Milliarden Euro. Katrina hatte die gesamte Versicherungsbranche in eine Art Klimaschock versetzt. Doch schon im darauffolgenden Jahr belief sich die Schadenssumme wieder nur auf 139 Millionen Euro. Ein solcher Rückgang sei aber kein Grund zur Entwarnung, findet Schmid: »Wir spüren aber deutlich den Trend, dass die durch Naturkatastrophen verursachten Schäden zunehmen«, sagt Schmid. »Es gibt klare Fakten.« Und tatsächlich wurde den Münchenern in diesem Jahr vom Wintersturm »Xynthia« bereits die Bilanz verhagelt. Laut »Financial Times Deutschland« wird der Orkan die Versicherungsbranche mit bis zu 2,5 Milliarden Euro belasten, das Erdbeben in Chile könnte sogar das Dreifache kosten.

Schmid, Typ dunkler Anzug und silberne Manschettenknöpfe, sitzt an einem kleinen Tisch in der Mitte der »Emerging-Risk-Management«-Werkstatt. An den Wänden hängt ein sogenanntes Risiko-Universum, aufgeteilt nach den Themenfeldern Natur, Gesellschaft, Infrastruktur, Wirtschaft und Technik, und auf der gegenüberliegenden Seite eine Liste mit 80 hypothetischen Ereignissen: vom Zusammenbruch des Dollars bis zum Bankrott eines Staates. Darüber hat Schmid den Dreiklang »Erkennen – Verstehen – Handeln« geschrieben. Hier versuchen der Betriebswirtschaftler und seine Kollegen, Zusammenhänge zu erkennen, wo andere nur ein Gewirr an Begriffen und Linien sehen. »Die Frage, auf die wir hier eine Antwort suchen, heißt: Haben wir ein Thema wirklich ausreichend verstanden, sodass wir zu einer Einschätzung kommen können?«

Was passiert zum Beispiel, wenn in einem Land wie Deutschland länger als 48 Stunden der Strom ausfiele? Welche Auswirkungen hätte das auf die Computernetze, auf den Kapitalmarkt, auf die Infrastruktur? Hätten die Tankstellen überhaupt genug Stromaggregate, um das Benzin aus den Tanks in die Autos zu pumpen? Und was wären die Konsequenzen, wenn der Verkehr zusammenbräche? Keine dieser Folgenunberücksichtigt zu lassen, zu erkennen, wie die Dinge miteinander in Verbindung stehen, und am Ende einer solchen Analyse zu einem Ergebnis zu kommen, das mit Fakten und Zahlen untermauert ist – das ist die Herausforderung. Denn ganz zum Schluss muss an jedem Risiko ein Preisschild hängen. Der Betrag, den eine Versicherung im Falle eines Stromausfalls dem versicherten Staat zahlen muss. Einer, der der Munich Re nicht das Genick bricht, wenn in Deutschland morgen tatsächlich die Lichter ausgingen.

Schmid lebt in einer Was-wäre-wenn-Welt und er ist darin nicht allein. Ihm steht ein Heer an Experten zur Verfügung, neben Physikern und Klimaforschern auch Mediziner, Sozialwissenschaftler und Soziologen. Gemeinsam spielen sie auf allen Feldern Szenarien durch, die für das Geschäft der Munich Re von Belang sind. Wie geht es weiter mit dem Klimawandel, wie entwickelt sich der Missbrauch sensibler Daten im Internet, erlebt die Familie mit den Möglichkeiten des Netzes eine Renaissance im Virtuellen?

Die Wahrnehmung eines Risikos ist ein ebenso großer Faktor wie das Risiko selbst

Er berät sich aber auch mit dem Bundeskriminalamt oder der Bundeswehr, etwa um einschätzen zu können, wie die Sicherheitslage in Afghanistan in ein paar Jahren aussehen wird und wie es um die Terrororganisation Al-Kaida bestellt sein könnte. Um möglichst keine Entwicklung zu verpassen, haben Linguisten außerdem eine eigene Suchmaschine programmiert, eine Art Risiko-Google. Sie durchforscht das Internet nach Schlüsselbegriffen, sucht auf Seiten von Anwälten (zum Beispiel um herauszufinden, wo auf der Welt Gerichtsprozesse zur Nanotechnologie laufen), genauso wie auf Wissenschaftsportalen, auf denen neue Forschungsergebnisse präsentiert werden. »Uns interessiert: Welche Entwicklungen gibt es in Natur, Technik und Gesellschaft und auf welchen Gebieten entsteht eine neue Dynamik?«, sagt Schmid.

Er arbeitet wie ein Komponist, der all die Informationen, die die Spezialisten zusammentragen, zu einem dissonanzfreien Stück zusammensetzen muss. Dazu gehört auch zu erkennen, welchen Einfluss die Wahrnehmung eines Risikos darauf hat, wie eine Gesellschaft damit umgeht. Beispiel Klimawandel: Noch vor ein paar Jahren war in der Wissenschaft umstritten, ob es einen vom Menschen verursachten Effekt aufs Klima überhaupt gibt. Die Diskussion unter Forschern hatte Einfluss auf die Berichterstattung in den Medien, was wiederum Auswirkungen darauf hatte, wie die Politik mit dem Klimawandel umging. Heute gilt, dass die klimatischen Veränderungen längst eingesetzt haben, die Frage ist nur noch, inwieweit es gelingt, die Folgen unter Kontrolle zu halten. Damit ist der Druck auf die Politik gestiegen, Entscheidungen zu treffen. Und wenn eine Klimakonferenz wie die von Kopenhagen im vergangenen Dezember ohne konkrete Beschlüsse zu Ende geht, schlägt das wiederum auf die Wahrnehmung der Menschen durch. Ein Risiko ist immer auch das, was eine Gesellschaft dafür hält.

Die Munich Re hat nun beschlossen, nicht länger ein reiner Beobachter sein zu wollen, der seine Geschäfte mit dem Risiko macht und gelegentlich von Politik und Wirtschaft als Ratgeber herangezogen wird. Im vergangenen Juli hat sie angekündigt, mit Partnern ein Investitionskonzept für ein riesiges Solarkraftwerk zu erarbeiten, das langfristig einen Teil der Energieversorgung in Europa sichern soll. Das Projekt trägt den Namen Desertec, die Federführung liegt bei der dafür gegründeten »Desertec Industrial Initiative« (DII). Dafür sollen in der Wüste Nordafrikas und im Nahen Osten Solarthermikkraftwerke entstehen, die Sonnenenergie in Strom verwandeln. Das Investitionsvolumen wird auf 400 Milliarden Euro geschätzt. Zu den Gründern gehörten zu Beginn zwölf Unternehmen, neben der Munich Re auch der Konzern Siemens. Eine Fläche von 300 mal 300 Kilometern mit Parabolspiegeln in der Sahara würde bereits ausreichen, um den gesamten Energiebedarf der Erde zu decken, rechnete ein Siemens-Sprecher vor.

Ob und wann Desertec Sonnenstrahlen tatsächlich in Strom verwandeln wird, liegt allerdings noch in dichtem Nebel: Im Moment ist das Konsortium dabei, einen Businessplan zu entwerfen, und auch die Munich Re hält es sich noch offen, als Investor in das Projekt einzusteigen. Einer der Knackpunkte dürften die hohen Kosten sein. Die Europäische Vereinigung für Erneuerbare Energien, Eurosolar, etwa hat Zweifel, dass das angegebene Investitionsvolumen ausreichen wird. Schmid ist sich darüber im Klaren, dass seiner Arbeit Grenzen gesetzt sind. Er hat keine Glaskugel, in die er schauen könnte. Und in einer immer komplexer werdenden Welt, in der sich Kommunikationsnetze über den gesamten Globus spannen und Finanzströme kaum noch zu überblicken sind, wird es zunehmend schwierig, den Verlauf eines bestimmten Ereignisses exakt vorherzusagen. Schon im Jahr 2007 machten sich die Experten beispielsweise Gedanken darüber, was passieren würde, wenn die Weltwirtschaft in eine Rezession schlittert. Dann kam die Finanzkrise, und ihr Ausmaß übertraf alle Erwartungen. Dass eine Investmentbank wie Lehman Brothers Insolvenz anmeldet und mit AIG der weltgrößte Versicherungskonzern nur mit Milliardenhilfe gerettet werden kann, hatten die Experten genauso wenig auf dem Schirm wie die milliardenschweren Rettungsprogramme, die die Regierungen weltweit auflegten, um den Zusammenbruch zu verhindern.

Kann man aus der Krise Lehren ziehen, um einen derartigen Crash zukünftig zu verhindern? »Man kann von dieser Wirtschaftskrise lernen, aber wird die nächste Krise genauso ablaufen? Nein, sie wird anders sein.« Und so lautet eine von Schmids Prognosen für die Zukunft: Es wird Risiken geben, die nicht mehr kalkulierbar sind. Und damit auch nicht mehr versicherbar. Das Geschäft hat sich gegenüber dem vergangenen Jahrhundert verändert, als es noch ausreichte, die Schäden der Vergangenheit anzusehen und auf deren Basis die Risiken der Zukunft zu kalkulieren. Aber niemand solle sich von der Ungewissheit verrückt machen lassen, sagt Schmid. »Überraschungen gehören zum Menschsein, man kann sich nicht gegen alles absichern.« Er klappt die Mappe mit dem »Global Risk Report 2010« zu, die das »World Economic Forum« vor Kurzem veröffentlicht hat. Das Leben lasse sich nicht vollständig in Modelle pressen, und man müsse akzeptieren, dass es Dinge gibt, von denen niemand weiß, wie sie ausgehen. In »Die Physiker« von Friedrich Dürrenmatt heißt es: Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer trifft sie der Zufall.

Kai Schächtele (35) hat sich schon früh in seinem Leben vertraut gemacht mit dem Risiko. Beim Brettspiel gleichen Namens lautete seine Philosophie stets: Sobald mir die ganze Welt gehört, kann mir nichts mehr passieren. An dieser Strategie hat sich seitdem wenig geändert.