Sophia Müller ist 27 Jahre alt und wohnt in Dresden. Sie hat keine Ausbildung, mit 18 ist sie Mutter von Zwillingen geworden. Und sie heißt eigentlich anders. Die meisten ihrer Freunde wissen nicht, dass sie nicht richtig lesen und schreiben kann. Deshalb der falsche Name. Nur ihre beste Freundin weiß „es“. Und ihre Eltern. Aber auch die finden, dass Sophia Müller „es“ nicht groß herumerzählen soll. Sie wollen kein Gerede.

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Linke und rechte Socke verwechselt? Passiert - auch Leuten, die keine Probleme beim Lesen haben. (Leon Reindl)

Linke und rechte Socke verwechselt? Passiert - auch Leuten, die keine Probleme beim Lesen haben.

(Leon Reindl)

Einen Zeitungsartikel lesen? Für funktionale Analphabeten unmöglich

7,5 Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben, hat die Universität Hamburg in einer Studie herausgefunden. Zumindest keine Texte, die länger als ein paar Sätze sind. Auf dem Amt ein Formular auszufüllen oder einen Artikel in einem Magazin zu lesen, überfordert sie. Das macht sie zu „funktionalen Analphabeten“, wie Bildungsforscher sagen. 7,5 Millionen Menschen – das sind so viele wie die Einwohner von Köln, Hamburg, München und Berlin zusammen.

Sieben dieser 7,5 Millionen Menschen fahren jeden Morgen mit dem Bus in die Dresdner Neustadt, wo man weit über die Elbe blicken kann. Sie laufen die Stauffenbergallee entlang, vorbei an herrschaftlichen Villen. Um acht Uhr beginnt ihr Unterricht in der Schreibakademie: Hier lernen sie richtig lesen und schreiben. Finanziert wird der Alphabetisierungskurs vom Europäischen Sozialfonds. Das DPFA-Bildungszentrum in Dresden ist einer der Träger, hier findet der Kurs statt. Auch Sophia Müller ist heute da, so wie jeden Tag, von Montag bis Freitag.

Rund die Hälfte aller funktionalen Analphabeten hat einen Job

Nicht mal ein Prozent aller funktionalen Analphabeten in Deutschland nimmt an einem solchen Kurs teil. Warum es nur so wenige sind, weiß man nicht. Vielleicht, weil sie nichts von den Angeboten wissen, vielleicht, weil sie sich mit Grauen an ihre Schulzeit erinnern. Vielleicht haben sie sich auch in einem Leben ohne Schrift arrangiert – rund die Hälfte der funktionalen Analphabeten hat einen Job. Warum also noch mal zur Schule gehen?

Außer Sophia Müller ist da Melanie Schulze, die jetzt 25 ist und auch „Mutti“, wie sie sagt. Ihre Tochter wurde geboren, als sie 17 war. Sie möchte gerne irgendwann Altenpflegerin werden. Nur das mit dem Lesen und Schreiben muss vorher noch besser werden. 

Da ist Andy Schneider, der viel schweigt. Nur manchmal schimpft er über die Ausländer, die am Hauptbahnhof Drogen verkaufen. Er stottert stark, ringt manchmal sekundenlang um ein Wort. Dafür ist er der Schnellste im Kurs. Wenn die anderen noch überlegen, hat er schon die Antwort. Er hilft den anderen dann. 

Da ist Frank Hoffmann, der früher Fleischer war und die Würste an der Farbe der Etiketten unterschieden hat. Er hat auch einen Staplerschein, erzählt er. Darüber freuen sich immer die neuen Arbeitgeber, wenn er sich bei ihnen vorstellt. Aber er wird nie eingestellt. Er habe große Schwächen beim Lesen und Schreiben, stand in seinem letzten Praktikumszeugnis. 

Auch ihre Namen sind verändert – bis auf den von Frank Hofmann. 

Und da ist Cornelia Wehner, die diesen Kurs donnerstags und freitags leitet. Eine Kommunikationspsychologin. Sie arbeitet schon einige Jahre mit Analphabeten und nimmt dafür immer wieder an Seminaren zur Weiterbildung teil, erzählt sie.

Aus kleinen werden große Lücken

Sie hat Arbeitsblätter mitgebracht, auf die sie kleine Fotos gedruckt hat. Ein Mann mit Rührgerät. „Was tut er da?“, fragt sie. „Er rührt Teig“, schlägt Melanie Schulze vor. „Wie schreibt man rührt?“, fragt Cornelia Wehner. „Klein.“ „Warum?“ „Weil es ein Tätigkeitswort ist.“

Ein anderes Bild: drei Kinder, die bunte Boxen in den Händen halten. „Die Kinder packen Geschenke“, sagt Frank Hoffmann. Melanie Schulze schreibt „kinter“. 

Cornelia Wehner sagt später, dass es bei vielen im Kurs eine Mischung aus Lese-Rechtschreib-Schwäche und Konzentrationsschwierigkeiten ist, die zu funktionalem Analphabetismus führt. Wenn die Kinder dann in großen Klassen lernen, in denen die Lehrer wenig Zeit für die Probleme Einzelner haben und auch die Eltern sich nicht kümmern oder kümmern können, dann werden diese Lücken oft immer größer.

Netzwerke und Ausreden helfen

Sophia Müller erzählt, dass sie schon in der Schule nie wusste, wo der Punkt hinkommt, was kleingeschrieben wird und was groß. Sie war auf einer Förderschule. Ihre Eltern haben sich immer wieder mit ihr hingesetzt, aber so richtig gezündet hat es nie. 
 
Sophia Müller hatte einen Tumor an der Leber, deshalb darf sie nur fünf Stunden am Tag arbeiten und kann die verpasste Berufsausbildung nicht mehr nachholen. Das Arbeitsamt steckte sie in Maßnahmen, aber irgendwann wurde sie gefragt, was sie denn hier mache, wenn sie nicht richtig lesen und schreiben kann. So begann sie vor drei Jahren einen Alphabetisierungskurs an der IHK. Seit einem Jahr ist sie bei der Schreibakademie in Dresden. Inzwischen ist sie Gruppensprecherin.

Die Betroffenen seien sehr gut darin, ein Netzwerk zu bilden, das ihnen hilft, erzählt Wehner. „Sie wissen, wer was wo weiß.“ Fremden gegenüber kommen oft die typischen Ausreden: Sie hätten ihre Brille nicht dabei, sie hätten Kopfschmerzen. „Die Menschen haben eine lebensbejahende Cleverness.“

Trotzdem leben alle sieben Teilnehmer von staatlichen Leistungen. Für ihre Teilnahme bekommen die Kursmitglieder fünf Euro am Tag und eine Monatsfahrkarte. „Ein großer Anreiz“, sagt Cornelia Wehner.

Sie wirft sich ein Kopftuch über, dann setzt sie sich auf einen Stuhl etwas abseits der Gruppe und ruft: „Ich bin Germanin! Ich fahre über das raue Meer nach England, und ich bringe Pflaumen mit.“ Dann steht sie auf, läuft zum Flipchart und schreibt das Wort „Pflaume“ dort hin. Darunter: „plum“. „Das f“, sagt sie, „das wollten die Engländer nicht haben. Wenn ihr euch einige englische Wörter genauer anschaut, werdet ihr merken, wie ähnlich sie den deutschen sind.“

Das Geld ist bei den Kursteilnehmern knapp

Ein bisschen Deutsch, ein bisschen Englisch, dann kommt ein bisschen Mathe. Wenn jemand im Jahr 2000 15 Jahre alt war, wie alt war er dann im Jahr 1988? Niemand weiß es. „So viele Lücken“, sagt Cornelia Wehner. 

Trotzdem, sagt sie. „Die meisten führen ein ganz normales Leben.“ Nur dass es eben finanziell nicht reicht. Manchmal gibt es am Ende des Monats dann keine Stulle zum Mittagessen.

In den vergangenen Monaten haben sie im Kurs ein Buch gestaltet, das sie am 3. März vorstellen wollen: Es ist eine Sammlung mit ihren Lieblingsgerichten, die nicht viel kosten. Die Rezepte sind in sehr einfacher Sprache verfasst. „Für unseresgleichen“, sagt Frank Hoffmann.