Raul Krauthausen, 31, App-Entwickler und Aktivist
Ich bin in Südamerika geboren, mein Vater ist Peruaner, und meine Mutter ist Deutsche. Seit ich denken kann, saß ich wegen meiner Glasknochenkrankheit im Rollstuhl. Als klar war, dass ich behindert sein werde, meinten meine Eltern, es wäre besser, wenn ich in Deutschland aufwachse. Heute gibt es immer mehr Klassen, in denen Behinderte und Nichtbehinderte gemeinsam lernen, aber damals existierten solche Modelle kaum. Meine Mutter fand aber einen Kinderladen für mich, das Kinderhaus. Ab dem Zeitpunkt wusste sie auch, wo ich später meinen Schulabschluss machen werde. Es sind immer wieder mal Kinder weggegangen, aber im Grunde waren wir bis zur siebten Klasse zusammen. Außer mir gab es noch ein geistig behindertes Kind und ein Kind mit einer Lernbehinderung, wir hatten einen zusätzlichen Lehrer, der sich um uns kümmern konnte. Seit meinem dritten Lebensjahr war es für mich normal, mit Nichtbehinderten zusammen zu sein. Ich habe auch keine direkte Diskriminierung erfahren, war relativ gut integriert, es gab keine bewusste Ausgrenzung. Mir wurde eigentlich erst in der vierten oder fünften Klasse bewusst, dass ich anders als die anderen Kinder war, und zwar, als wir im Sportunterricht statt Ballfangen auf einmal Fußball spielten. Es gibt einfach Sachen, die mit dem Rollstuhl nicht so geil sind. Wandertage mit Schlittschuhlaufen zum Beispiel, Sportunterricht, Klassenfahrten oder Kuschelpartys. Da habe ich gemerkt, dass ich nicht richtig mithalten kann. Die Lehrer kamen dann auf Verlegenheitslösungen. Nach dem Motto: Wenn die anderen 100-Meter-Lauf machen, dann darf Raul die Zeit stoppen. Ich dachte mir nur die ganze Zeit: Fick dich, ich will irgendwas anderes machen. Irgendwann wurde ich zum Glück vom Sport befreit.
Manchmal war meine Behinderung aber auch ein Vorteil. Ich musste zum Beispiel keinen Pausendienst machen. In der siebten oder achten Klasse habe ich es auch mal regelrecht ausgenutzt, im Rollstuhl zu sitzen. Wir mussten bei einer Klassenarbeit in Englisch einen Brief an einen imaginären Freund schreiben. Ich wusste, dass die Englischlehrerin ein bisschen sensibel war, und dann dachte ich: Okay, ich hol mir die Eins, und lieferte eine supertraurige Geschichte ab, die frei erfunden war. Es ging natürlich darum, wie sehr ich unter meiner Behinderung leide. Ich habe geschrieben, dass ich manchmal aus dem Fenster schaue und gerne mit den anderen Fußball spielen würde, aber nicht raus kann, weil mein Arm mal wieder gebrochen ist. Völliger Scheiß. Nach zwei Wochen bekam ich die Arbeit zurück, natürlich war es eine Eins mit Stern. Was ich aber nicht bedacht hatte, war, dass der Klassenbeste immer seine Arbeit vorlesen musste. Das war ausgleichende Gerechtigkeit. Als ich vorlas, wussten alle bis auf die Lehrerin, dass ich gelogen hatte. Ich kann mir nicht vorstellen, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn ich wie so viele andere auf einer Förderschule gelandet wäre. Ich hatte immer tierisch Angst davor.
„Man muss Menschen mit Behinderung auch mal in den Arsch treten“
Meine Mutter hat mal als Ärztin in so einer Einrichtung gearbeitet. Die Lehrer, die ich da getroffen habe, waren zwar engagiert, aber sie haben die Schüler zum Teil überbehütet. Man muss Menschen mit Behinderung auch dadurch fördern, dass man ihnen ab und zu in den Arsch tritt. Ich habe da zum Beispiel ein Mädchen kennengelernt, das gerade seinen Abschluss machte und sich an der Filmhochschule bewerben wollte. Der Film, den sie mir zeigte, war aber so schlecht, dass mir völlig klar war, warum sie später permanent von der Hochschule abgelehnt wurde. Nicht mal der Ton war synchron. Aber das hat ihr eben niemand gesagt. Das passiert in solchen Systemen, in denen Behinderte unter sich sind: Man verliert die Messlatte. Eine Sache habe ich aber in meiner integrierten Schulklasse nicht gelernt: mich mal ein bisschen zu entspannen. Ich verausgabte mich permanent zu 120 Prozent, um mit denen mitzuhalten, die nicht behindert waren. Erst ab der elften Klasse habe ich beim Schulrat beantragt, dass ich mehr Zeit für Klausuren kriege als die anderen, weil meine Hände und Arme einfach kürzer sind und deswegen das Schreiben auch schwerer ist.
Für mein Selbstbewusstsein war es aber sehr gut, in einer integrativen Klasse zu sein. Ich hatte bis zu meinem Vordiplom an der Uni keine behinderten Freunde. Die Schule hat mich voll ausgefüllt, meine Freunde haben mich voll ausgefüllt. Ich bin erst mal der Ansicht, man sollte alle Förderschulen abschaffen und dann mal gucken, ob diese nicht inkludierbaren Menschen überhaupt existieren. Wer den Erhalt dieser Schulen unterstützt, ist zu faul, darüber nachzudenken, welche Alternativen es gibt. Ich glaube, dass auch ein schwerst mehrfach behindertes Kind ein Recht darauf hat, nichtbehinderte Menschen zu sehen und zu treffen. Und auch Nichtbehinderte haben das Recht, schwerst mehrfach behinderte Menschen zu sehen. Niemand will in Watte gepackt werden. Auch ein behindertes Kind muss mal Frust aushalten, so wie alle anderen auch.
Hanno Dietrich, 30, Psychologe
Ich bin in Hamburg aufgewachsen und habe ab der ersten Klasse gemeinsam mit Behinderten gelernt. Das war natürlich die Entscheidung meiner Eltern. Sie hatten sich dieses Modell ausgesucht, weil sie fanden, dass meine Schwester und ich so bestimmte soziale Kompetenzen vermittelt bekommen. Wir hatten insgesamt drei Behinderte in der Klasse. Johnny war Spastiker, der ist immer auf Zehenspitzen gegangen, weil er verkürzte Achillessehnen hatte. Auch seine Hände waren so ein bisschen beeinträchtigt. Bei den anderen beiden hat man es nicht so stark gesehen. Martin war Autist, aber das habe ich eigentlich erst später mitbekommen. Er redete manchmal ein bisschen wirres Zeug, sang irgendwelche Kinderlieder, und ab und an flatterte er so mit den Händen, wenn er sich freute. Sobald es ihm in unserer Klasse zu viel wurde, kam er in eine reizärmere Umgebung, einen Nebenraum, wo er dann alleine spielen konnte. Und dann gab es da auch noch Mesut. Er hatte eine geistige Behinderung, war verhaltensauffällig, aggressiv und minderintelligent.
Wir hatten zwei, manchmal auch drei Lehrer, einer kümmerte sich immer speziell um die Behinderten. Mit Martin verstand ich mich besonders gut, wir waren befreundet. Ich lud ihn damals zum Kindergeburtstag ein und er mich auch. Natürlich war es nicht immer ganz einfach. Auf dem Pausenhof gab es schon ab und zu blöde Sprüche. Johnny war kognitiv am reifsten, der hat am meisten unter Beleidigungen gelitten. Meistens hat der Rest der Klasse es aber gut aufgefangen, wenn ein Nichtbehinderter einen Behinderten blöd angemacht hat. Normalerweise bin ich oder ein anderer aus der Klasse dazwischengegangen.
„Wir wurden als Behindertenklasse verspottet“
Öfter wurden wir aber auch als Ganzes von Schülern aus anderen Klassen angegriffen, in denen es keine Behinderten gab. Wir wurden als Behindertenklasse verspottet. Für mich war das aber nicht schlimm, im Gegenteil: Das hat unseren Zusammenhalt nur noch verstärkt. Und von den Leistungen war unsere Klasse sowieso eine der besten. Gestört oder aufgehalten haben die Behinderten uns eigentlich so gut wie nie. Na ja, beim Fußballspielen war es schon manchmal ein bisschen schwierig, und es hat schon mal genervt, wenn Mesut den Ball weggekickt hat.
Ich denke, dass ich auch viel von den Behinderten gelernt habe. Ich kann Heterogenität und das Andersartige von Menschen besser akzeptieren. Ich habe kapiert, dass jeder sein eigenes Arbeitstempo hat, seine Stärken und Schwächen und genauso viel wert ist wie der andere Mensch. Behinderte wollen kein Mitleid, sondern einfach nur integriert sein. Für mich ist der Umgang mit ihnen seit meiner Schulzeit völlig selbstverständlich. Ich finde, integrierte Schulklassen sind ein gutes Modell, aber auch Förderschulen haben ihre Berechtigung. In Baden-Württemberg, wo ich lebe, können alle Eltern ihre Kinder in eine normale Schulklasse geben, aber sicher ist es bei manchen Schülern auch sinnvoll, wenn sie auf eine Förderschule kommen, weil sie da intensiver betreut werden können und ausgebildetes Fachpersonal haben. Sonderpädagogen können sie einfach besser unterstützen als Lehrer, die unter Umständen noch nie mit Behinderten gearbeitet haben. Leider habe ich nach der siebten Klasse, in der wir uns spezialisieren mussten, allmählich den Kontakt zu den Behinderten verloren. Von Mesut weiß ich noch, dass er später in einer Autowerkstatt von Verwandten oder Bekannten gearbeitet hat. Von Martin habe ich erfahren, dass er in einem betreuten Wohnprojekt lebte. Und bei Johnny bin ich mir sicher, dass er seinen Hauptschulabschluss gekriegt hat.