„Arm, aber sexy“: Nur ein dummer Spruch oder ist da was dran? Manchmal kann man ja wirklich mit weniger Geld glücklich werden. Die Freiheit und das Gefühl, an etwas Sinnvollem zu arbeiten, sind oft wichtiger als Karrieremöglichkeiten und ein geregeltes Einkommen. Zum Schluss haben wir in Berlin ein paar Leute besucht, die so eben über die Runden kommen, aber reichlich Erfahrungen machen

Jeden Donnerstag um 9.30 Uhr können die Mitglieder der Betahaus-Community kostenlos frühstücken. An einer langen Tafel im hauseigenen Café gibt es belegte Brötchen und Filterkaffee, doch die Teilnehmer sind nicht nur zum Essen hier, sondern auch, um Erfahrungen und Ideen auszutauschen. Jedes Mal sind neue Gesichter dabei, deshalb stellen sich alle erst einmal kurz vor. Die meisten sind unter 30 und sehen ziemlich lässig aus; ein Filmemacher aus São Paulo ist dabei, ein Programmierer aus Bulgarien und die Inhaberin einer Schokoladenfirma aus New York. Manche haben einen Arbeitsplatz im Haus, andere sind hergekommen, um zu zeigen, womit sie sich beschäftigen. Drei junge Damen aus London stellen eine Art bunte Power-Knete vor, die eine halbe Stunde nach dem Auspacken hart wird und mit der man alles Mögliche flicken und modellieren kann. In der Runde sitzen auch zwei Design-Studenten, die ein Möbelstück entwickelt haben, das man zugleich als Schreibtisch und als Schlafgelegenheit nutzen kann. Sie nennen es „Vollbeschäftigung“.

Während an der Frühstückstafel in ständig wechselnden Zusammensetzungen miteinander geredet wird, starren die meisten der übrigen Cafébesucher an den Tischen ringsum konzentriert auf ihre Laptops. Durch eine massive Tür neben dem Tresen gelangt man zu einem alten Lastenaufzug, der zu den weitläufigen Gemeinschaftsbüros in den oberen Etagen führt, wo rund 200 Kreative aus den verschiedensten Disziplinen ihren Projekten nachgehen. „Co-Working-Space“ nennt man das, wenn Freiberufler, Existenzgründer und Jungunternehmer, die sich kein eigenes Büro leisten können, eine Arbeitsfläche teilen. Die Tische mit den roten Aufklebern sind fest vermietet, die mit den grünen Aufklebern sind gerade frei. Der Mitgliedsbeitrag beläuft sich auf monatlich zehn Euro, ein flexibler Arbeitsplatz ist für zwölf Euro am Tag zu haben.

Allein in Berlin gibt es inzwischen rund 50 Co-Working-Einrichtungen, die nach demselben Prinzip funktionieren, und längst haben Trendgurus das vernetzte Arbeiten außerhalb herkömmlicher Unternehmenshierarchien zum Lebensentwurf der Zukunft ausgerufen. Durch das Buch „Wir nennen es Arbeit“ wurde vor ein paar Jahren der Begriff „Digitale Bohème“ populär. Er bezeichnet eine Generation von Journalisten, Fotografen, Designern, Architekten, Programmierern und Filmemachern, die über viele Freiheiten verfügen, aber mit unsicheren Einkommensverhältnissen leben müssen: kreative Nomaden ohne festes Gehalt, aber mit ständigem Zugang zum Internet. Berlins Regierender Bürgermeister prägte schon 2003 den Slogan von Berlin: arm, aber sexy. Das brachte ihm nicht nur Beifall ein. Manche warfen ihm vor, er verpasse seiner Schuldenmetropole ein schickes Image und mache sich über Leute lustig, die so eben über die Runden kommen. Tatsächlich ist der Übergang von der Selbstverwirklichung zum Selbstbetrug fließend; so mancher Freiberufler hat den Weg in die Selbstständigkeit nur aus Mangel an Alternativen eingeschlagen und wurstelt nun am Existenzminimum herum. Andere machen ein Praktikum nach dem anderen, oft ohne überhaupt etwas dafür zu bekommen.

Viel mehr als Miete, Wasser und Brot ist gerade nicht drin

Wie kommt man also als digitaler Unternehmer über die Runden? „Puh, das ist eine schwierige Frage“, sagt Benjamin Tincq. Der Franzose reist derzeit quer durch Europa, um sein Projekt bekannt zu machen: eine Internetplattform für Leute, die an die unterschiedlichsten Formen von Zusammenarbeit und unkommerziellem Austausch glauben – vom Wohnungstausch übers Lastenfahrrad bis zur Bauanleitung für Kühlschränke. Geld verdient Tincq damit nicht, deshalb hofft er auf eine Förderung durch die EU. Ab und zu hält er Vorträge für Mitarbeiter großer Unternehmen, die etwas über digitale Netzwerke und kollaboratives Arbeiten lernen wollen, dabei kommt ein bisschen was an Honoraren zusammen. Für seine neue Mission hat er einen gut bezahlten Job in einer Beratungsfirma aufgegeben. „Geld ist nicht alles“, sagt er. „Ich wollte lieber etwas Sinnvolles machen – etwas, das mir persönlich wichtig ist.“

Auch Anthony Forsans gibt sich mit einem vergleichsweise niedrigen Einkommen zufrieden, weil er an seine Sache glaubt. Neun Monate lang haben sein Geschäftspartner und er von einem Gründungszuschuss des Arbeitsamts gelebt, für weitere sechs Monate erhalten sie nun eine Förderung der TU Berlin, die von der EU mitfinanziert wird. „Das reicht für Miete, Wasser und Brot, aber viel mehr ist gerade nicht drin“, sagt Forsans. Der studierte Wirtschaftsingenieur hat bei einem renommierten Beratungsunternehmen gekündigt, um ein neuartiges Schließfachsystem zu entwickeln, das sich über Smartphones steuern lässt und in dem man zum Beispiel seine schmutzigen Hemden ablegen kann, damit sie von einem Mitarbeiter einer Reinigung abgeholt werden. Den ersten Prototypen haben die beiden in einer Werkstatt zusammengeschraubt. Ein paar Tausend Euro aus ihren Ersparnissen hat das Ding gekostet, jetzt ist es bereit zum Ausprobieren.

Auch bei Benjamin Emde ist es der Unternehmergeist, der ihn auf vieles verzichten lässt. Kürzlich hat der 25-Jährige seinen Master in IT-Systems Engineering gemacht, seit ein paar Wochen sitzt er nun als Teil eines fünfköpfi gen Teams an einem der Schreibtische und arbeitet am Aufbau einer Website, die Reisenden quer durch Europa dabei helfen soll, möglichst schnell und möglichst günstig von einem Ort zum anderen zu kommen, indem sie gleichzeitig nach Bus-, Bahn- und Flugverbindungen sucht. Programmierer wie Emde sind derzeit gefragt, deshalb hat er in der jungen Start-up-Firma gleich eine Anstellung bekommen; allerdings arbeitet er fast 60 Stunden pro Woche und bekommt dafür deutlich weniger als das Einstiegsgehalt, das in einem großen Software-Unternehmen bei etwa 45.000 Euro im Jahr liegen würde. Emde ist noch so jung, dass er es sich leisten kann, nicht viel zu verdienen. „Es ist ja nicht so, dass ich auf irgendwas verzichten müsste“, sagt er. „Mein Lebensstandard entspricht noch dem eines Studenten, und in Berlin kann man auch mit wenig Geld ganz gut auskommen.“ Viele Start-up-Firmen gibt es nach einem Jahr nicht mehr, doch dieses Risiko geht Benjamin Emde ein. „Bei einem Start-up lernt man als Entwickler viel mehr als in einem alteingesessenen Unternehmen. Wenn ich mich irgendwann mal woanders bewerbe, dann kann ich sagen, dass ich schon mal etwas von Grund auf mit aufgebaut habe. Das ist viel wert.“