Longyearbyen ist zwar der größte Ort der norwegischen Inselgruppe Spitzbergen, besteht aber aus nicht mehr als ein paar Häuschen zwischen meist verschneiten Bergen am Ufer des arktischen Ozeans. Das Kaff mit gerade mal 2.100 Einwohnern ist eine der nördlichsten Siedlungen der Welt, nur 1.300 Kilometer vom Nordpol entfernt. Und trotzdem – oder besser gesagt: gerade deshalb – verzeichnet der örtliche Flughafen einiges an Verkehr, regelmäßig landen auf seiner einzigen Piste Maschinen aus aller Welt. Ihre Fracht: grüne und graue Plastikkisten, die auf Lastwagen umgeladen werden. Anschließend geht die Fahrt rund einen Kilometer den nächsten Berg hinauf und dann in eine kleine Sackgasse. An deren Ende ragt ein riesiges Betondreieck aus dem Berg, an der Spitze funkelnde Glasfragmente, darunter eine schwere Tür aus gebürstetem Stahl. Es sieht ein bisschen aus, als habe hier ein Stararchitekt für einen James-Bond-Film eine Schurkenzentrale entworfen.
Die Arche Noah der Samen
„Svalbard Global Seed Vault“ steht neben der Stahltür. Dahinter erstreckt sich ein 100 Meter langer Gang, am Ende eine Luftschleuse. Nach deren Öffnen flackert Neonlicht auf und beleuchtet drei große Säle voller Metallregale, in denen Unmengen der grauen und grünen Plastikkisten gestapelt sind, säuberlich beschriftet mit Aufklebern und Strichcodes. Hier liegt einer der größten Schätze der Menschheit: fast eine Million Tütchen mit Samen von landwirtschaftlichen Nutzpflanzen – von Amaranth und dem Viehfutter Alfalfa bis zu Wassermelonen oder Weizen, dazu zahllose Arten von Reis, Kartoffeln und Futterpflanzen. Insgesamt sind es Samen von einem Drittel der weltweit erfassten Nutzpflanzen, allesamt akribisch verpackt, bei minus 18 Grad Celsius eingefroren und darum einige Jahrzehnte oder bis über 10.000 Jahre haltbar, je nach Pflanzenart.
„Dies ist die Arche Noah der Samen“, sagt Cary Fowler. Der US-amerikanische Agrarwissenschaftler gilt als Vater des Svalbard Global Seed Vault. Sein „globaler Samenspeicher“ ist eine Art Rückversicherung für Saatgut- oder Gendatenbanken. In solchen Einrichtungen bewahren Forscher und Züchter weltweit Proben von Pflanzensamen auf. Ihre überschüssigen Samen können sie kostenlos auf Spitzbergen, auf Norwegisch: Svalbard, lagern. Für den Notfall.
In den rund 13.000 Jahren, in denen die Menschheit nun schon gezielt Landwirtschaft betreibt, hat sie über Zucht und Auswahl eine riesige Vielfalt an Nutzpflanzen geschaffen. Diese sind oft perfekt an die lokalen Begebenheiten angepasst. So unterscheiden sich je nach Herkunftsland etwa Kartoffelsorten in ihrer Widerstandskraft gegen Nässe oder Hitze, Schädlinge oder bestimmte Krankheiten.
Doch rund um die Erde gehen zunehmend Arten verloren, die Vielfalt wird zur Einfalt. Ein wichtiger Grund: Die Agrarindustrie setzt auf die immer gleichen Sorten. Experten schätzen, dass im vergangenen Jahrhundert weltweit bereits die Hälfte aller Nutzpflanzen verschwunden ist. So waren 1903 in den USA 408 Erbsenarten in Gebrauch, 1983 waren es nur noch 25. Und an lediglich zwölf unterschiedlichen Pflanzen hängt das Gros der globalen Lebensmittelversorgung.
Apropos Artenschutz
Der Artenschutzbericht des Bundesamts für Naturschutz sieht nicht gut aus: Von den rund 71.500 bekannten Tier-, Pflanzen- und Pilzarten hierzulande stehen 32.000 auf den Roten Listen, die Auskunft über das aktuelle Ausmaß ihrer Gefährdung geben. Fast ein Drittel dieser Arten ist bestandsgefährdet, und 5,6 Prozent sind bereits ausgestorben oder verschollen. Weltweit verschwinden jährlich 50.000 Tier- und Pflanzenarten – so viele wie noch nie in der geologischen Geschichte der Erde. Für den Schwund gibt es viele Gründe. Ein wichtiger: die intensive Landwirtschaft mit einigen wenigen Pflanzen- und Tierarten. Weitere Faktoren sind Baumaßnahmen wie neue Wohn- und Gewerbegebiete oder neue Autobahnen. Dazu kommen Fischerei, Umweltverschmutzung oder Freizeitaktivitäten, die Ökosysteme stören. So lassen sich die zahlreichen Faktoren für den Rückgang des Artenreichtums auf einen Verursacher zurückführen: den Menschen.
Hier kommen die weltweit rund 1.750 Saatgutbanken ins Spiel, darunter die deutsche Gendatenbank in Gatersleben im Nordharz. In ihren Gefriertruhen lagern häufig noch Samen von Sorten, die längst nicht mehr genutzt werden. Auf diesen Reichtum können Züchter zurückgreifen, wenn sie neue Sorten erstellen wollen. Im Erbgut der Samen finden sich zahllose Eigenschaften, die in Zukunft vielleicht einmal nützlich sein werden – beispielsweise Immunität gegen bestimmte Schimmelpilze oder Schädlinge, die eines Tages die globale Versorgung mit Reis oder Weizen bedrohen könnten. Der Artenreichtum, den Saatgutbanken verwalten, kann darum den Unterschied ausmachen zwischen Essen und Hungern. „Ohne die Vielfalt, die sich in den Saatgutsammlungen findet, wird die Landwirtschaft scheitern“, sagt Cary Fowler.
Doch Naturkatastrophen oder Kriege bedrohen weltweit die Sammlungen, die oft einzigartige Pflanzensamen beinhalten – und noch häufiger schlichter Geldmangel. So galt eine Gen-Datenbank auf den Philippinen wegen ihrer klapprigen Kühltruhen lange als Sorgenkind: Wenn die Kühlung ausfällt, werden die Samen unbrauchbar. Bei solchen Notfällen können Züchter oder Forscher nun auf Spitzbergen Spitzbergen anrufen. Der Global Seed Vault, der überwiegend von der Bill und Melinda Gates Stiftung finanziert wird, lagert die Schätze kostenlos in den Tresorräumen. Und die Eigentümer können ihr Samen- Back-up jederzeit zurückverlangen.
Bis dahin sind die Samen vergleichs weise sicher aufbewahrt. So wurde die insgesamt rund 1.000 Quadratmeter große Anlage in stabilen Sandstein gesprengt. Der eiskalte Fels kann die Samen auch dann vor dem Auftauen bewahren, wenn die Kühlsysteme der Anlage mal ausfallen sollten. Erdbeben sind in der Region keine zu erwarten.
Schon mehrmals ist Wasser in die Anlage gelaufen
Und nicht zuletzt kommen im abgeschiedenen Longyearbyen nur selten Fremde vorbei, die Böses im Schilde führen. Und wenn doch, würden sie in dem winzigen Kaff schnell auffallen.Die Lage des Seed Vault 130 Meter über dem Meeresspiegel müsste nach Berechnungen von Fowler und seinen Kollegen sogar ausreichen, falls eines Tages sämtliches Eis der Polkappen und Grönlands abgeschmolzen sein sollte. Dann stiege der Meeresspiegel nämlich um 70 Meter. Allerdings ist schon mehrmals Wasser in die Anlage gelaufen, weil ringsum im Permafrostboden kein Permafrost mehr herrscht, er also nicht mehr ohne Unterbrechung gefroren ist. Schon im Eröffnungsjahr 2008 verformte sich dadurch die Stahlummantelung des Eingangstunnels. Und erst kürzlich lief Wasser hinein, das zu Eis wurde. Das mussten Arbeiter dann mühsam mit Spitzhacken entfernen. Künftig aber sollen Gräben und Trennwände jedes Tau- und Regenwasser abhalten. Sicher ist sicher.
Fotos: James Rajotte