Es ist, als würden im Kino fortwährend Kommentare der Zuschauer eingeblendet: „Laaaaaaaaaaangweilig!“ Es ist, als würden die Besucher im Museum auf jedes Gemälde gelbe Zettelchen mit ihrer eigenen Meinung pappen: „Das soll ein Gesicht sein? Meine Nichte (8) kann das besser!“ Es ist, als würden im Theater immer wieder Zuschauer aufstehen und das Geschehen auf der Bühne kritisieren: „Hey, was soll das schwule Rumgehopse?“
Im Journalismus gehören solche Zwischenrufe, Überblendungen und Einwürfe von der Seite inzwischen nicht nur zum Alltag. Sie gelten als weiterer Schritt in eine schöne neue und „soziale“ Medienwelt. Mit der digitalen Revolution hat sich auch das Verhältnis von Publizismus und Publikum grundlegend verändert. Es debattieren nicht mehr nur die Meinungsritter verschiedener Zeitungen miteinander, es mischt auch das Publikum mit. Nicht mehr nur in Leserbriefen, sondern in Echtzeit. Über Twitter, Facebook oder die Kommentarspalten im Internet. Wer aber alle, also auch den Mob, zum Mitmachen einlädt, wird gemobbt. Wer den Pöbel ermuntert, wird angepöbelt. Heute geht es sofort in den Nahkampf. Kaum ist ein Artikel online, zieht er schon die ersten Kommentare auf sich. Der erste Leser bezweifelt die Relevanz des Textes („Und wo ist da die Nachricht?“), der zweite seine Richtigkeit („Man kann das auch ganz anders sehen“) – und spätestens der dritte Leser geht ad hominem, also direkt auf den Autor los: „Bei welcher Schülerzeitung wurde dieser armselige Schreiberling denn aufgegabelt?“
Was eigentlich Thema war, wird schnell vergessen. Und was eine Debatte sein könnte, verwandelt sich zusehends in ein Schlachtfeld aus Gedankentrümmern und Meinungsmorast, in dem nur noch die widerlichsten Stilblüten blühen. Zumal ein wütender Leser viel eher als ein zufriedener Leser geneigt ist, sich spontan im Internet zu äußern. Er hält dies für demokratische Teilhabe, sein gutes Recht, will aber doch lieber im Schutz der Anonymität teilnehmen. Denn so lässt sich in den Foren ein Ton anschlagen, wie man ihn höchstens vom Schulhof kennt. Dabei kann der ursprüngliche Autor noch von Glück reden, wenn sich die ihm nachsetzende Meute irgendwann gegenseitig an die Gurgel geht. Hier moderierend und damit mäßigend eingreifen zu wollen entspricht dem Versuch, einen Schwarm attackierender Piranhas mit guten Worten zur Umkehr zu bewegen. Der Schwarm aber kennt naturgemäß keine Intelligenz. Nur Affekte. Deshalb wird jeder Artikel über Rassismus zuverlässig von rassistischen Kommentaren unterspült, zieht jeder Text über Sexismus einen Rattenschwanz an sexistischen Beleidigungen hinter sich her.
Es ist ein Elend. Und jeder Blogger, jeder Journalist kennt dieses Elend. Trotzdem tun alle Beteiligten so, als könnte man „mit dem Publikum auf Augenhöhe“ in einen für beide Seiten fruchtbaren Dialog treten. Trotzdem geben sich alle Beteiligten den Anschein, das Netz wäre ein platonisches Plenum, in dem alle Akteure ein gemeinsames Ziel verfolgen. Als müssten eben nur schnell „die schlimmsten Einträge“ gelöscht werden, so wie man nebenbei Unkraut rupft. Wenn das keine Zensur ist, so ist es doch mindestens eine verfälschende Beschönigung. Durch das Herausfiltern der Trolle und Irren ist der Diskurs aber nicht mehr zu retten, weil er eben nicht mehr repräsentativ ist – weil das Gesamtbild durch die Löschung der schlimmen Beiträge so verzerrt wird, dass es am Ende nur so scheint, als würden die gemäßigten Stimmen überwiegen.
Wenn uns aber systematisch – und sei es aus noch so guten Gründen – eine Minderheit als Mehrheit vorgegaukelt wird, läuft etwas schief. Dann kann von einem demokratischen Diskurs keine Rede sein. Es ist eben nicht die radikale Minderheit, die sich im Netz in eine Meute verwandelt. Es ist die Mehrheit.