Thema – Gender

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„Kleidung hat keinen Mund“

Auf den ersten Blick wirkt der Fotoband der Instagrammerin Hannah Mueller-Hillebrand wie eine gewöhnliche Street-Style-Sammlung – auf den zweiten erzählt er von den Erfahrungen junger Frauen mit sexuellen Übergriffen und Victim Blaming

was hattest du an?

Wenn die Verantwortung für eine Straftat beim Opfer gesucht wird, nennt man das „Victim Blaming“ oder „Täter-Opfer-Umkehr“. Die Instagrammerin und Illustratorin Hannah Mueller-Hillebrand fragte junge Frauen in Berlin nach ihren Erfahrungen mit Victim Blaming und fotografierte sie und ihre Outfits. Wir sprachen mit der 21-Jährigen über das daraus entstandene Fotobuch „Aber was hattest du an?“.

fluter.de: Wie bist du auf die Idee zu deinem Projekt gekommen?

Hannah Mueller-Hillebrand: Ich studiere im vierten Semester Design. Während einer Recherche für einen Fotografiekurs bin auf eine Umfrage der EU-Kommission gestoßen: Mehr als ein Viertel der Europäerinnen und Europäer sind der Meinung, dass eine Vergewaltigung in manchen Fällen gerechtfertigt ist – zum Beispiel, wenn sich die Frau sexy anzieht. Mich hat das so schockiert. Nicht nur, dass über ein Viertel der Leute so denken, sondern dass die auch noch offen dazu stehen! Also habe ich angefangen, mich mit Victim Blaming auseinanderzusetzen und mit Freunden darüber zu diskutieren.

 

Wie war da der Tenor?

Bei meinen männlichen Freunden ist es oft eher so, dass sie bisher kaum über das Thema nachgedacht haben. Und natürlich haben auch manche meiner Freunde was in die Richtung gesagt: „Du weißt doch – wenn du dich sexy anziehst, dann schauen dich halt alle an.“ Aber das rechtfertigt doch nicht, eine Frau anzufassen! Kein Mann braucht zu glauben, eine Frau will etwas von ihm, nur weil sie sich schick macht. Wenn du zur Polizei gehst und einen Übergriff anzeigst, wirst du als Frau schon mal gefragt: „Aber was hattest du an?“ Das ist doch komplett irrelevant! Ein Mann, der überfallen wird, wird auch nicht gefragt, was er anhatte.

 





 

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Fotobuch über Victim Blaming

Ein Jahr lang arbeite Mueller-Hillebrand an ihrem Fotoprojekt „Aber was hattest du an?“, Geld für die Produktion sammelte sie über eine Crowdfunding-Plattform. Das Buch erschien Anfang des Jahres

Auch dein Fotoprojekt heißt „Aber was hattest du an?“. War es schwierig, Frauen dafür zu gewinnen?

Überhaupt nicht. Erst hatte ich Angst, dass vielleicht niemand mitmachen will. Ich habe auf Facebook und Instagram einen Aufruf gestartet und bekam sehr viel Resonanz. Ursprünglich wollte ich von jeder Frau ein Foto machen und ihre Geschichte neben das Bild stellen. Manche wollten sich aber nicht fotografieren lassen, andere haben mir anonym geschrieben, was sie erlebt haben. Jetzt sind einige Zitate und Fotos vermischt. Viele Frauen schämen sich für das, was ihnen angetan wurde. Das ist auch so ein Punkt: Nur fünf Prozent der Frauen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, gehen zur Polizei. Viele haben Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird. Wie kann unsere Gesellschaft das ändern, wenn sie gleichzeitig sagt „Selber schuld“?

„Wenn du dir die Fingernägel lackierst, dann musst du doch mit so etwas rechnen“

Sieht man den Outfits der Frauen an, dass sie schon mal für ihren Kleidungsstil kritisiert wurden?

Die Reaktionen der Frauen auf Victim Blaming sind ganz unterschiedlich: Manche reagieren eher trotzig und kleiden sich noch extrovertierter. Andere ziehen sich total in sich zurück. Das kann man auch an ihrem Stil und auf den Fotos sehen.

Welche Geschichte aus deinem Buch hat dich besonders beschäftigt?

Mich haben alle bewegt. Eine Frau aber hat erzählt, wie ein Mann sie verfolgt hat und eine ältere Frau ihr zu Hilfe gekommen ist. Als der Mann schließlich abgehauen ist, meinte die ältere Frau zu ihr: „Wenn du dir die Fingernägel lackierst, dann musst du doch mit so etwas rechnen.“ Mich hat diese Geschichte so verblüfft. Erst musste ich lachen. Aber eigentlich zeigt sie genau, was falsch läuft in unserer Gesellschaft. Mir ist erst da richtig aufgefallen, dass auch viele Frauen Victim Blaming betreiben und sagen: „Die braucht sich ja nicht wundern.“

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Hannah Mueller-Hillebrand (Foto: privat)

Die Instagrammerin Hannah Mueller-Hillebrand (21) wünscht sich eine Welt, in der man auch nackt sorglos auf die Straße gehen kann

(Foto: privat)

Fühlst du dich persönlich in deiner Freiheit eingeschränkt, anzuziehen, worauf du Lust hast?

Eingeschränkt würde ich nicht sagen. Ich ziehe mich so an, wie ich will, und mache auch, wozu ich Lust habe. Aber ich gehe ungern ohne meinen Freund feiern, weil es sonst fast immer passiert, dass ich angefasst werde. Mir ist noch nie etwas wirklich Schlimmes passiert, aber ich glaube, das würden die meisten Frauen sagen.

Wie meinst du das?

Während der Arbeit an meinem Fotoprojekt habe ich gemerkt, wie viele „kleine“ Dinge mir schon passiert sind. Wie oft ich angegrabscht wurde, als wie selbstverständlich ich das wahrgenommen und fast schon vergessen habe. Da geht es, glaub ich, vielen so. Bei mir zu Hause in Erlangen gibt es zum Beispiel die Bergkirchweih – ein Fest, das von der Stimmung her ähnlich ist wie das Oktoberfest. Da ist es „ganz normal“, dass den Frauen unter die Kleider gefasst oder gefilmt wird. 

Was willst du mit deinem Buch erreichen?

Ich finde, unsere Gesellschaft muss umdenken. Theoretisch musst du nackt auf die Straße gehen können, ohne Angst zu haben, dass dich jemand anfasst. Ich finde es irre, dass immer wieder behauptet wird, wenn eine Frau etwas anderes angehabt hätte, wäre ihr vielleicht ein Übergriff nicht passiert. Kleidung ist nur Kleidung. Für manche vielleicht eine kreative Art, nach außen zu zeigen, wer man gerne sein möchte. Aber Kleidung hat keinen Mund. Kleidung kann nicht sprechen. Sie kann einem Mann nicht sagen, was eine Frau will und was nicht.

 

Fotos: Hannah Mueller-Hillebrand

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.