„Mehr Almosenempfänger aus der Schweiz – wieder eine Schiffsladung auf dem Weg.“ So war in der „New York Times“ vom 3. März 1855 eine Kurzmeldung überschrieben. Tatsächlich verließen Mitte des 19. Jahrhunderts so viele Schweizer ihre Heimat wie nie zuvor. Bedingt durch das Bevölkerungswachstum und den Strukturwandel fanden in der Landwirtschaft unzählige Menschen keine Arbeit mehr und verarmten. Arbeitssuchende flüchteten in die Städte, wo es zunächst ebenfalls nicht genügend Jobs gab. Die Bettler aus allen Ecken des Landes wurden zurück in ihre Heimatgemeinden geschickt, manche der Bedürftigen wurden auch in Armenhäusern eingesperrt und mit einem Eheverbot belegt, damit sie ihr Elend nicht an nachfolgende Generationen weitergeben konnten.
Heute sieht die Welt anders aus: Die Schweizer sind das reichste Volk der Erde. Mehr als eine halbe Million Dollar beträgt das Nettodurchschnittsvermögen eines Erwachsenen, wie die Credit Suisse in ihrem „Global Wealth Report 2016“ errechnete; damit sind die Schweizer heute elfmal wohlhabender als der Weltdurchschnitt.
Der Aufstieg des Landes begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als im Zuge der Industrialisierung der Eisenbahnbau und die Fabriken für Arbeitsplätze sorgten. Zudem wurde ein System von Sozialversicherungen aufgebaut, um Arbeiter und Bauern vor Armut zu bewahren. Doch das ist an sich nicht so ungewöhnlich – Ähnliches geschah damals auch in den Nachbarländern.
Was die Schweiz grundlegend von ihren Nachbarn unterschied und heute noch unterscheidet, ist ihre außenpolitische Situation. Auf dem Wiener Kongress im Jahr 1815 hatten die umliegenden Großmächte die Schweiz zur neutralen Pufferzone inmitten Europas erklärt. Das erwies sich als großer Vorteil, denn so wurde die Schweiz in der Folge weitgehend aus kriegerischen Konflikten herausgehalten.
1880 erschien das Kinderbuch „Heidi“, das die Schweiz als idyllisches Bergland beschrieb, dabei war das Land schon da auf dem Weg vom Bauernstaat zur Handelsnation. Ohne Rücksicht auf politische und militärische Bündnisse nehmen zu müssen, exportierte man seine Produkte in alle Welt und kaufte international Rohstoffe ein. „Schweizerische Unternehmer, meist familiär organisiert, bauten in ganz Europa globale Marktbeobachtungskapazitäten auf und betrieben zudem eine erfolgreiche Geschäftsexpansion in Amerika, Asien und Afrika“, schreibt der Historiker Jakob Tanner.
Ökonomen und Historiker sind sich relativ einig: Die frühe Internationalisierung der Schweizer Industrien, der Zugang zu ausländischen Märkten, Gütern und Dienstleistungen hat die Schweiz reich gemacht. Während andere europäische Nationen in Kriege verstrickt waren, baute das Land in Ruhe seine Volkswirtschaft auf. Die politische Neutralität sorgte für Beständigkeit und eine harte Währung: den Franken.
Allerdings war die Schweiz durch ihre Handelsverbindungen auch in den europäischen Kolonialismus involviert. Man besaß zwar keine Kolonien, aber Schweizer Unternehmen bewirtschafteten in Südamerika oder Afrika Plantagen. Und als auf dem Wiener Kongress die europäischen Großmächte die Abschaffung des Sklavenhandels beschlossen, zeigte sich die Schweiz unbeeindruckt. Schon 1740 handelten Baseler Geschäftsleute mit Sklaven und Kakao für den Exportschlager Schokolade. Und Alfred Escher, der Gründer der Schweizerischen Kreditanstalt (heute Credit Suisse), war Sprössling einer Patrizierfamilie, deren Stammbaum bis in die höchsten politischen Ebenen reichte. Das Geld, das Escher für den Aufbau seiner Geschäfte zur Verfügung stand, stammte aus dem Kolonialwarenhandel seines Vaters, nachweislich auch aus einer Kaffeeplantage, auf der Sklaven arbeiteten.
Für das Bankwesen war die Stabilität der Schweiz besonders förderlich. Dazu kam das Bankgeheimnis, das die Schweizer Banken zu einem Ort machte, wo auch Ausländer ihr Geld vor den Finanzämtern in ihren Ländern verstecken konnten. Immer wieder horteten neben dem europäischen Geldadel auch Diktatoren und korrupte Politiker illegale Gelder auf Schweizer Konten, etwa das frühere philippinische Präsidentenpaar Ferdinand und Imelda Marcos, der ehemalige haitianische Präsident Jean-Claude Duvalier oder der nigerianische General Sani Abacha. Als in den vergangenen Jahren mehrmals gestohlene Datensätze über auf Schweizer Banken geparkte Vermögen ausländischen Steuerbehörden zum Kauf angeboten wurden, führte das zu heftigen Auseinandersetzungen mit Staaten wie den USA oder Deutschland, die den Schweizern Beihilfe zum Steuerbetrug vorwarfen. Außerdem wurden die Schweizer Banken wiederholt für ihre Rolle im Zweiten Weltkrieg kritisiert, weil sie sich bei der Verwaltung von Vermögen von Opfern des Nationalsozialismus bereicherten. Die Aufarbeitung dieses Kapitels der Schweizer Wirtschaftsgeschichte fand erst in den 1990er-Jahren statt.
Neben den Banken ist die Schweiz heute Heimat vieler Großunternehmen, etwa der Chemie- und Pharmaindustrie. In Basel sind mit Roche und Novartis zwei der größten Konzerne beheimatet. Zudem gibt es erfolgreiche Unternehmen in der Leichtmetallindustrie, der Elektrotechnik, dem Maschinenbau und in der Lebensmittelbranche: Der Konzern Nestlé gilt heute als größter Lebensmittelhersteller der Welt, der beständig von Menschenrechtsorganisationen kritisiert wird, unter anderem weil er in manchen armen Ländern aus Wasser ein teures Produkt gemacht hat.
Dazu ließen sich viele ausländische Firmen in der Schweiz nieder, die die niedrigen Steuern und die wirtschaftsfreundliche Politik schätzen. Die umsatzstärksten Firmen der Schweiz sind die internationalen Rohstoffhändler Glencore, Vitol und Cargill. Sie machen ihre Milliarden oft, ohne dass die Rohstoffe je neutralen Schweizer Boden berühren – und lassen dafür, etwa in afrikanischen Minen, Arbeiter unter teils menschenunwürdigen Bedingungen schuften, was ihnen regelmäßig Kritik von NGOs einbringt.
Doch da ist immer noch das Mitspracherecht der Bevölkerung. Voraussichtlich 2018 werden die Bürger darüber abstimmen, ob Schweizer Unternehmen bei ihren Tätigkeiten im Ausland verbindliche Regeln zum Schutz von Menschenrechten und Umwelt einhalten müssen – wie sie im Inland schon bestehen. Wenn sich die Mehrheit für Ja entscheidet, wäre die Schweiz eines der ersten Länder, das die UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte gesetzlich festschreiben. Und das wiederum wäre ja auch nicht untypisch: Denn nicht zuletzt gehört zum Erfolg der Schweizer Wirtschaft auch ein gutes Stück Innovationsgeist.
Der American Express: James Dimon (61), Banker
James Dimon steht seit Jahren an der Spitze der US-Großbank J.P. Morgan Chase & Co. Er gehört zu den bestbezahlten Spitzenmanagern an der Wall Street. Schon 2011 bekam er 17 Millionen Dollar Bonuszahlungen, zusätzlich zu seinem Grundgehalt von einer Million Dollar. Nach einem Bachelor in Psychologie und Volkswirtschaft an der Tufts University und einem MBA an der Harvard Business School legte Dimon einen steilen Aufstieg hin, mit Stationen unter anderem bei American Express. Im Jahr 2005 rückte er dann an die Spitze von J.P. Morgan und manövrierte die Bank als eine der wenigen US-Großbanken ohne Verlust durch die Finanzkrise. So vollkommen aus dem Nichts kam dieser Erfolg gleichwohl nicht, denn Dimon war familiär vorgeprägt: Schon sein Vater und Großvater waren Wertpapierhändler. 2012 hat James Dimons Ansehen allerdings leicht gelitten, nachdem J.P.-Morgan-Händler innerhalb weniger Wochen etwa 2 Milliarden Dollar verspekuliert hatten und die Bank zudem mit 13 Milliarden Dollar für fragwürdige Hypotheken-Deals büßen musste. Das vergangene Geschäftsjahr (2016) hat J.P. Morgan dann aber wieder so erfolgreich abgeschlossen wie nie zuvor: Dimon erhielt dafür insgesamt 28 Millionen Dollar – und obendrein vermehrte er sein Aktienvermögen um mehr als 150 Millio nen Dollar, da die Aktien amerikanischer Banken nach der Wahl Donald Trumps einen rasanten Kursanstieg hingelegt haben.