Collage mit Menschen und Wahldiagrammen

„Identitätspolitik spielt faktisch keine Rolle“

Bei der letzten Bundestagswahl waren 7,1 Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte wahlberechtigt. Was ist ihnen wichtig? Welche Unterschiede gibt es? Und welche Rolle spielt Repräsentation?

Von Anna Scheld
Thema: Demokratie
13. Juni 2025

fluter.de: Herr Jacobsen, die Wahlpräferenzen von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland scheinen sehr unterschiedlich zu sein: Communitys mit türkischem Hintergrund präferieren laut ihrer Studie eher SPD und Linke. Menschen mit Wurzeln in der ehemaligen Sowjetunion wählen eher CDU, einige auch AfD. Wie kommt es zu diesen Unterschieden? 

Jannes Jacobsen: Wir gehen davon aus, dass das beides in der Biografie der Menschen verankert ist. Die türkischen Gastarbeiter:innen haben damals in der industriellen Produktion oder unter Tage gearbeitet und waren sehr nah an Gewerkschaften und einem Milieu dran, das der SPD nahe war. Die Partei hat sich in den Sechzigern und Siebzigern besonders für die Arbeiterklasse starkgemacht. Letztendlich haben Gastarbeiter:innen also nicht anders gewählt als ihre deutschen Kolleg:innen. 

Ist das bei deren Kindern und Kindeskindern gleich geblieben? 

Das löst sich mehr und mehr auf. Generell galt lange, dass eine starke Parteibindung über Generationen weitervererbt wird. Wenn das Elternhaus eine Partei wählte, wählten die Kinder wahrscheinlich dieselbe. Aber den Abwärtstrend der SPD beobachten wir in der Gruppe der ehemaligen Gastarbeiter:innen genauso wie in der Gesamtbevölkerung. Ich gehe davon aus, dass sich diese Parteibindung in den nächsten zehn bis 20 Jahren auflöst. 

Und warum wählen Menschen mit Wurzeln in der ehemaligen Sowjetunion eher CDU? 

Darunter fallen vor allem jene, die Anfang der 50er-Jahre nach Deutschland ausgewandert sind, und die Spätaussiedler, die in den 90er-Jahren kamen. Die CDU unter Kohl hat sich damals wie eine Art Schutzpatron verhalten: Sie hat sich dafür starkgemacht, dass insbesondere die Spätaussiedler die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen und dass ihre Versicherungszeiten im Herkunftsland in der deutschen Rentenversicherung berücksichtigt werden. Das Thema Altersarmut beschäftigt viele Migrant:innen, weil sie erst in die Rentenkasse eines anderen Landes eingezahlt haben, die im deutschen Sozialsystem nicht mehr gilt.

Welche Rolle spielt Religion bei den Wahlen? 

Wir haben in unserem Fragebogen sehr offen gefragt, welche Themen ausschlaggebend sind. Religion kam kaum vor. Das Einzige, was aktuell sichtbar eine Rolle spielt und häufig mit religiösen Fragen verknüpft wird, ist der Gaza-Krieg.

„Das Thema Altersarmut beschäftigt viele Migrant:innen, weil sie erst in die Rentenkasse eines anderen Landes eingezahlt haben, die im deutschen Sozialsystem nicht mehr gilt“

Welche Sorgen beschäftigen Menschen mit Migrationshintergrund? 

Noch immer überproportional oft materielle Sicherheit. Fragen wie: Kann ich mir die Lebenssituation, die Wohnsituation noch leisten? Wird die Rente reichen? Eine weitere große Sorge ist, Opfer einer Straftat zu werden. Das ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass darüber im öffentlichen Diskurs kaum gesprochen wird – Migrant:innen sind da meist nur Täter, selten Opfer. 

Im Berliner Stadtteil Neukölln hat Ferat Koçak von der Linken den Wahlkreis gewonnen, er ist kurdischer Abstammung. Wie wichtig ist Repräsentation für das Wahlverhalten? 

In unseren Ergebnissen spielt Identitätspolitik faktisch keine Rolle. Wenn das ein entscheidender Faktor wäre, hätte man auch Hakan Demir wählen können, Direktkandidat der SPD in Neukölln. Koçak hat stark auf sozialpolitische Themen gesetzt, es ging viel um bezahlbares Wohnen. Das ist ja eine zentrale Frage für viele Migrant:innen. Meine Vermutung ist: Er weiß einfach, welche Themen die Leute beschäftigen. 

In Ihrer Studie haben Sie 2.689 Menschen nach ihren Parteipräferenzen und wahlentscheidenden Themen befragt. Welche methodischen Schwächen sehen Sie? 

Unsere Studie ist beschreibend, sie kann also keinen kausalen Zusammenhang zwischen geografischer Herkunft und Wahlverhalten herausstellen. Trotzdem ist unsere Studie eine repräsentative Befragung. 

Woran liegt es, dass der Faktor Migrationsgeschichte in der deutschen Wahlforschung so schlecht erforscht ist?

In der Sozialforschung können wir keine echten Experimente zum Migrationshintergrund machen. Wir können Menschen ja nicht zufällig in „mit“ oder „ohne“ Migrationsgeschichte einteilen und dann ihr Wahlverhalten vergleichen – das wäre die Voraussetzung für einen klaren Ursache-Wirkungs-Nachweis. Stattdessen beobachten wir reale Menschen, bei denen viele Dinge gleichzeitig wirken: Einkommen, Bildung, das politische Interesse im Elternhaus oder wie wichtig bestimmte Themen wie Klima für sie sind. Viele dieser Faktoren hängen sowohl mit dem Migrationshintergrund als auch mit dem Wahlverhalten zusammen. Deshalb ist es sehr schwer, den Einfluss des Migrationshintergrunds von diesen anderen Einflüssen zu trennen.

Sind Faktoren wie Geschlecht, Einkommen oder Alter also letztendlich wahlentscheidender als Migrationsgeschichte?

Viele Faktoren beeinflussen, wie Menschen wählen – nicht nur der Migrationshintergrund. Besonders wichtig ist die soziale Lage, also zum Beispiel Einkommen, Bildung oder ob jemand arbeitet oder nicht. Auch das persönliche Umfeld – Familie, Freund:innen, Kolleg:innen – spielt eine Rolle. Zusätzlich wirken sich aktuelle Themen wie zum Beispiel Klima und Personen auf die Wahlentscheidung aus. Ich vermute, der Einfluss des Migrationshintergrunds wird oft überschätzt.

Sie ziehen in Ihrer Studie den Schluss, dass migrantische Gruppen in Deutschland viel zu heterogen wählen, als dass sie ausschlaggebend für eine Wahl sein könnten. 

Ja, Stand jetzt ist das so. Aber die Gruppe wächst, und Parteien müssen sich gut überlegen, wie sie diese Menschen insgesamt, aber auch in ihrer Unterschiedlichkeit ansprechen. Die Wahlbeteiligung von Zugewanderten und ihren Nachfahren ist weiterhin niedriger als in der Gesamtbevölkerung. Insbesondere für kleine Parteien schlummert hier ein bisher wenig genutztes Potenzial. 

Dr. Jannes Jacobsen

Dr. Jannes Jacobsen arbeitet als Wissenschaftler am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) und hat gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen im Januar 2025 die Kurzstudie „Vernachlässigtes Wähler*innenpotenzial?“ veröffentlicht. 

Foto: DeZIM-Institut

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Illustration: Renke Brandt