Lebt eine Stadt? So sicher war sich eine Handvoll Londoner Architekten in den 60er-Jahren da nicht. Sie sahen sich umzingelt von historischen Monstrositäten wie dem Buckingham-Palast oder unwirtlichen Wohnkasernen, in denen die Arbeiter ein karges Dasein fristeten. Nein, die Stadt schien nicht zu leben. Um das zu ändern, wurde die Architekten-Gruppe »Archigram« gegründet, die zunächst mal mit einer Zeitschrift, die eine Mischung aus Comicheft und wilden Bauplänen war, die Leute verstörte: Statt immobiler Bauten schwärmten die Mitglieder von »Wohnkapseln«: gemütlich-funktionale Kugeln, die sich an verschiedene Trägerbauten andocken ließen. Heute, im Zeitalter der Globalisierung, wäre so was ideal. Allerdings: Gebaut wurde so gut wie nichts, was sich Archigram ausdachte, und dennoch beeinflussten die kühnen Entwürfe kommende Generationen. Große Architekten sind ihrer Zeit oft voraus, ihre Entwürfe resultieren aus einer kritischen Auseinandersetzung mit den Verhältnissen, sind Abbild der Wünsche und Konflikte einer Epoche. So leitete das 1919 in Weimar gegründete Bauhaus mit seiner neuen Sachlichkeit das Ende einer Zeit ein, die es gern neobarock und verschnörkelt hatte. Die funktionalen Bauten und Möbel waren eine Kampfansage an die Ornamentik des Bürgertums. Für den Architekten Ludwig Mies van der Rohe, der am Bauhaus wirkte, war die Baukunst »der räumliche Ausdruck geistiger Entscheidungen«. Der Architekt Le Corbusier, geboren 1887 in einer kleinen Schweizer Uhrmacherstadt, hat gleich mehrfach versucht, ideale Welten zu bauen. 1947 hat er die Cité Radieuse entworfen: ein Hochhaus in Marseille, in dem es alles gab, was eine Stadt ausmacht: einen Friseurladen, ein Hotel, einen Supermarkt und auf dem Dach einen Spielplatz mit Blick aufs Mittelmeer. Im indischen Chandigarh hat er zur gleichen Zeit eine riesige neue Stadt entworfen, den Regierungssitz des Bundesstaates Punjab. Er teilte die Stadt in Sektoren auf, in denen entweder gearbeitet, gewohnt oder eingekauft wurde.
Es gibt genügend Beispiele dafür, dass Regierungen Architekten engagierten, um ihre politischen Absichten in Bauten zu manifestieren. So entwarf der brasilianische Architekt Oscar Niemeyer, ein früherer Kollege von Le Corbusier, für die Regierung irgendwo im Nirgendwo die Plan-Hauptstadt Brasilia, mit der sich der Aufbruch in eine neue Zeit und eine Restrukturierung der Infrastruktur inklusive einer Umverteilung der Bevölkerung verband. Visionen sind wichtig, um die Zukunft zu meistern. Heute suchen Architekten vor allem nach Antworten auf Fragen wie die nach der Erderwärmung oder nach sozialen Ungerechtigkeiten – manche Entwürfe plädieren für eine Versöhnung mit der Natur. So hat der junge japanische Architekt Sou Fujimoto gerade das »Final Wooden House« gebaut – ein Kubus aus kunstvoll gestapelten Holzbalken, in denen man gemütliche Schlafnischen und Sitzecken findet. Furore machen auch Entwürfe, die sich konsequent der Schonung der Ressourcen verpflichten: Niedrigenergiehäuser für Privatleute, aber auch für Firmen werden das Stadtbild in Zukunft prägen. Zudem zeigen bekannte Architekten wie Rem Koolhaas, Zaha Hadid oder Jürgen Mayer, dass in der Architektur oftmals aus visionären Entwürfen Antworten auf die gesellschaftlichen Veränderungen entstehen.