Sie schlichen sich in der Dunkelheit zum Strand, zogen Neoprenanzüge an oder bestiegen Schlauchboote. Dann schwammen oder ruderten sie in die Dunkelheit hinein – etliche Kilometer bis zum rettenden Ufer vor sich. Unvorstellbar, welche Risiken Tausende DDR-Bürger auf sich nahmen, um über die Ostsee in die Freiheit zu fliehen. Die meisten wurden von den Patrouillenbooten der Grenzpolizei aufgegriffen, andere ertranken. An der dänischen Küste zogen Fischer immer wieder Leichen aus ihren Netzen – bis heute ist der Verbleib vieler Menschen ungeklärt. Ein bei weitem nicht auserzähltes Kapitel DDR-Geschichte und ein guter Stoff für einen Roman.

Das hat sich wohl auch Lutz Seiler gedacht, der sonst eher Gedichte verfasst – was man seinem Romandebüt irgendwie anmerkt. Statt eines Spannungsbogens, der einen über die fast 500 Seiten hinweg tragen könnte, liefert Seiler eine atmosphärische und sprachliche Verdichtung, bei der man zwangsläufig ein klaustrophobisches Gefühl bekommt. Irgendwann fühlt man sich beim Lesen genauso beengt wie der Protagonist Ed Bendler in der DDR.

Der bricht im Wendejahr sein Germanistikstudium ab, um ans Ende der Deutschen Demokratischen Republik zu reisen – auf die Insel Hiddensee, von wo aus man bei guter Sicht bis nach Dänemark blicken kann. Eine wunderbare Verheißung, wenig mehr als 40 Kilometer entfernt. Ed landet als Spülkraft im „Klausner“, einem Touristikbetrieb, den Lutz Seiler Seite für Seite zur Großmetapher ausbaut: der „Klausner“ als Schiff in den Wogen unsicherer Zeiten, mal kurshaltend, mal schlingernd, aber letztlich natürlich dem Untergang geweiht. Bis dahin vertreibt sich die Belegschaft in seinem Bauch die Zeit mit der Vergabe bedeutungsvoller Spitznamen und der Vernichtung sämtlicher Alkoholvorräte. In Eds Spülbecken fault das Wasser, und täglich geht einer über Bord. Am Ende natürlich auch der namengebende Alexander Krusowitsch alias Kruso, der Ed in die Geheimnisse des „Klausners“ einweiht.

Lutz Seiler hat für „Kruso“ den Deutschen Buchpreis bekommen – wahrscheinlich, weil es im Jubiläumsjahr der friedlichen Revolution einfach sehr gut passte: ein bekannter Autor aus dem Osten, der sich ein wichtiges Thema vornimmt.

Dabei sind die Schotten dieses literarischen Seelenverkäufers so dicht, dass der Geschichte ziemlich schnell die Luft ausgeht. Mögen sich im Rest der Republik die Anzeichen auf ein gutes Ende verdichten, auf Hiddensee ist irgendwann alles nur noch ein großes Raunen – die Herkunft der Menschen, ihr Verbleib, ihre Absichten und auch die latent homoerotische Beziehung von Ed zu Kruso. Alles bleibt im Küstennebel.