Herr Surowiecki, Sie sagen, dass Gruppen klüger sein können als ihre klügsten Mitglieder. Schwer vorstellbar.
Natürlich, jeder glaubt zuerst das Gegenteil: Gruppen von Menschen sind dumm. Die Masse ist für uns schlimmstenfalls ein tumber und gefährlicher Mob, bestenfalls eine verwässerte, auf Durchschnitt ausgerichtete Gruppe, die nur den kleinsten gemeinsamen Nenner sucht.
Und weshalb sagen Sie: Die Masse ist schlau?
Die Beweise sind überwältigend. Das einfachste Beispiel ist das mit den Bonbons: Lässt man eine größere Gruppe von Menschen schätzen, wie viele Bonbons in einem Glas sind, ist der Durchschnitt ihrer Einzelschätzungen meist sehr nah an der wahren Anzahl. Viel näher als die beste Einzelschätzung. Auch bei Wer wird Millionär? antwortet die Masse, wenn man den Publikumsjoker nimmt, viel öfter richtig als die Experten, die der Kandidat anruft.
Woran liegt das?
Die Weisheit der vielen kommt nur zustande, wenn man viele Leute unabhängig voneinander befragt. Jeder weiß nur ein kleines bisschen, aber die Fehler, die sie machen, heben sich gegenseitig auf – übrig bleibt die pure Information.
In Ihrem Buch beschreiben Sie, dass man so sogar ein verschollenes U-Boot gefunden hat ...
Das ist eines meiner liebsten Beispiele: 1968 verlor die US Navy Kontakt zu einem Unterseeboot im Nordatlantik. Es gab nur sehr wenige Informationen, und so setzte sich eine Gruppe zusammen und jeder Einzelne, vom Offizier bis zum Techniker, überlegte, was passiert sein könnte: wie schnell und weit das U-Boot in welche Richtung gefahren sein müsste, wie hoch oder wie tief es sich befinden könnte. Jemand fasste all diese Einzelaussagen zusammen und ermittelte daraus einen Ort. Tatsächlich befand sich das U-Boot nur 200 Meter davon entfernt. Das Interessante: Niemand hatte auf genau diesen Ort getippt – er war nur die Summe ihrer Vermutungen. Diese Methode wurde auch angewandt, um eine Wasserstoffbombe zu finden, die bei einem Flugzeugunglück vor der spanischen Küste verloren gegangen war. Auch da hat es funktioniert.
Und Märkte sind der beste Weg, um diese versteckte Intelligenz einer Gruppe sichtbar zu machen und zu nutzen?
Ja, Wahlumfragen liegen oft überraschend weit daneben, selbst wenn eine repräsentative Gruppe am Tag der Wahl befragt wird. Das liegt da-ran, dass viele Menschen einfach nicht die Wahrheit sagen. Viel präzisere Ergebnisse erzielt man, wenn man einen simulierten Markt einrichtet, an dem die Menschen Aktien von Kandidaten kaufen können. Man fragt sie also nicht, wie sie wählen, sondern wie sie glauben, dass die anderen entscheiden. Solche Prognosemärkte sagen den Ausgang einer Wahl regelmäßig auf ein oder zwei Zehntelprozent korrekt voraus.
Warum funktioniert das?
Märkte vereinigen automatisch sehr unterschiedliche Menschen, da prinzipiell jeder teilnehmen kann. Ebenfalls sehr wichtig: Die Beteiligten interagieren zwar, sind aber vonein-ander unabhängig.
Welche anderen Arten solcher Prognosemärkte gibt es – außer für Wahlergebnisse?
Unternehmen nutzen sie inzwischen. Es ist doch oft so: Einen kleinen Angestellten fragt niemand nach seiner Meinung – oder er traut sich nicht, sie seinem Chef mitzuteilen. Dabei haben gerade diese Leute oft die wichtigsten Informationen. Durch Prognosemärkte kann man diese Informationen sichtbar machen: Siemens nutzt das zum Beispiel, um festzustellen, ob bestimmte Produkte rechtzeitig fertig werden oder wie erfolgreich neue Produkte sein werden.
Angestellte können also Aktien kaufen, die besagen, dass eine Software rechtzeitig fertig wird?
Genau. Wenn niemand diese Aktien kauft, sondern alle ihr Spielgeld darauf verwetten, dass es zu einer Verspätung kommt, kann man daraus natürlich etwas ablesen. Gerade schlechte Nachrichten kommen so eher zum Vorschein, als wenn man sie seinem Boss ins Gesicht sagen müsste. Siemens sagt, sie hätten dadurch ihre Prognosen um 50 Prozent präziser gemacht.
Hat der Aktienmarkt auch Vorhersagekräfte?
Auf jeden Fall! Ein interessantes Beispiel ist das Challenger-Unglück von 1986. Vier große Firmen hatten die Bauteile geliefert, nach der Explosion sind die Kurse aller vier Firmen gefallen. Drei Kurse haben sich relativ schnell wieder stabilisiert. Nur der vierte Kurs, der der Firma Morton Thiokol, fiel tiefer und tiefer. Dabei war die Unglücksursache nicht mal ansatzweise klar. Erst viel später stellte sich heraus, dass wirklich die Feststoffraketen dieser Firma zu dem Unglück geführt hatten.
Wie konnte der Aktienmarkt das wissen?
Keine Einzelperson wusste etwas. Es gab keinen Insiderhandel oder geheimen Wissensvorsprung. Aber jeder ahnte wohl ein kleines bisschen, zusammen ergab sich ein schlüssiges Bild.
Warum können dann trotzdem immer wieder Hypes und Blasen auf dem Markt entstehen – wie der Neue Markt Ende der Neunziger?
Blasen entstehen, wenn die Meinungsvielfalt zusammenbricht. In einem gesunden Markt sind alle Arten von Meinungen vertreten: Optimismus, Pessimismus, Euphorie, Skepsis. Wenn das wegfällt und nur noch eine Variante der Zukunft erzählt wird – so wie bei der Internetblase Ende der Neunziger –, wird es gefährlich.
Warum?
Weil plötzlich reine Spekulanten die Oberhand gewinnen. Die wissen, dass sie mehr bezahlen, als die Aktie wert ist – vertrauen aber darauf, dass es irgendwo einen Idioten gibt, der ihnen noch mehr dafür bezahlen wird. Diese Leute gibt es immer, aber in einer Blase dominieren sie den Markt.
Wann entsteht eine solche Blase?
Das ist noch nicht endgültig geklärt. Blasen tauchen häufiger auf, wenn eine neue Technologie auf der Bildfläche erscheint. Seien es große Umwälzungen wie das Internet oder kleine wie automatische Bowlingbahnen, die Anfang der Sechzigerjahre in den USA eine absurde Blase verursachten.
Es gab einen Bowling-Hype?
Automatische Bowlingbahnen waren neu und boomten, die Leute dachten, so werde es weiter- gehen. Der Wall Street Broker Charles Schwab, heute einer der fünfzig reichsten Männer der USA, multiplizierte allen Ernstes die Einwohnerzahl Amerikas mit zwei wöchentlichen Stunden Bowling und dachte, das sei der Bedarf.
Welche Rolle spielen die Medien bei der Entwicklung von Blasen?
Eine entscheidende: Sie dienen als Echokammer, in der sich alle Stimmen gegenseitig verstärken. Journalisten sind auch nicht klüger als alle anderen: Wenn ihnen jemand einen Trend anpreist, der plausibel klingt, springen viele mit auf – und stecken damit andere an.
Abgesehen von einer gewissen Vorsicht am Aktienmarkt: Wie kann jeder Einzelne Ihre These von der klugen Masse für sich nutzen?
Wenn Sie in einem Team eine Entscheidung treffen müssen, beziehen Sie eher mehr Leute mit ein als weniger. Ermutigen Sie die Leute zu unterschiedlichen Meinungen, erzwingen Sie keinesfalls einen Konsens. Wir müssen als Individuen die Beschränkungen unseres eigenen Wissens erkennen.
Heißt das, ich sollte mich immer der Masse anschließen – wenn die so viel klüger ist als ich?
Die Weisheit der Masse funktioniert nur, wenn alle für sich selbst denken. Um auf das Anfangsbeispiel zurückzukommen: Das Bonbonexperiment funktioniert nur, wenn alle unabhängig voneinander ihren Tipp abgeben. Berät die Gruppe und gibt einen Konsenstipp ab, liegt der stets viel weiter daneben.
Woran kann ich erkennen, dass eine Gruppe auf dem Holzweg ist?
Wenn sich die Mitglieder zu ähnlich sind, was ihren Hintergrund, ihre Einstellung, ihre Erfahrung betrifft. Wenn das Gefühl entsteht, das wahre Ziel der Gruppe sei es nicht, die richtige Lösung zu finden, sondern Einigkeit herzustellen. Hüten Sie sich vor Gruppen, in denen wenige Leute die Debatte dominieren.
Neben der Gier nach Konsens: Was ist der größte Fehler in einer Gruppendiskussion?
In einem großen Kreis reihum jeden nach seiner Meinung zu fragen. Es ist fast ausgeschlossen, dass diejenigen, die als Letzte dran sind, noch ehrlich antworten.
James Surowiecki, 39, ist Wirtschaftskolumnist des New Yorker und Autor des Buchs Die Weisheit der Vielen (The Wisdom of Crowds). Er lebt in Brooklyn.