fluter: Was würden Sie einer 18-jährigen Leserin unseres Magazins raten: Sollte sie sich dringend mal mit ihrer Familiengeschichte beschäftigen?

Angela Moré: Nein, nur wenn es einen Leidensdruck gibt. Mit 18 hat man ja meistens erst mal genug damit zu tun, sich von den Eltern zu lösen. Aber manchmal empfinden junge Menschen etwas als ihr eigenes Problem, dessen Ursache in einer früheren Generation liegt.

„Eltern und Großeltern, die selbst Opfer waren, haben nicht die Absicht gehabt, ihren Kindern und Enkeln etwas Schlechtes mitzugeben. Aber sie konnten nicht anders, weil sie die schlimmen Erlebnisse nicht einfach loswerden konnten“

Von unseren Vorfahren werden uns ja nicht nur negative Eigenschaften und Erfahrungen weitergegeben. Dass Sie zum Beispiel hier sitzen und mir Fragen stellen, hat sicher auch damit zu tun, dass Sie viel Positives von Ihrer Familie mit auf den Weg bekommen haben. Und Eltern und Großeltern, die selbst Opfer waren, haben nicht die Absicht gehabt, ihren Kindern und Enkeln etwas Schlechtes mitzugeben. Aber sie konnten nicht anders, weil sie die schlimmen Erlebnisse nicht einfach loswerden konnten, sondern tiefe Narben in sich tragen. Daher kommt ja der Begriff „Trauma“: Es sind im medizinischen Verständnis Wunden, die nie vollständig verheilen, sondern vernarben und häufig weiter schmerzen. Das transgenerationale Erbe ist so etwas wie ein Phantomschmerz in den nachkommenden Generationen.

Wie muss man sich die Vererbung eines Traumas von Eltern an ihre Kinder vorstellen? Funktioniert das so wie die Weitergabe von genetischem Material?

Es ist zwar inzwischen nachgewiesen, dass Traumata die Gene verändern können, aber sie werden nicht eins zu eins vererbt. Kinder sind nicht nur passive Empfänger der meist unbewussten Botschaften der Eltern: Sie nehmen das, was sich atmosphärisch im familiären Klima zeigt, aktiv auf. Natürlich beeinflusst ein Kind auch umgekehrt die Erwachsenen. Deswegen ist das Bild der Erbschaft irreführend. Es ist keine einseitige Weitergabe, sondern ein emotionaler Kommunikationsprozess.

Eine große Rolle in der Forschung zu diesem Thema spielt der Holocaust. Warum?

Aufgrund der Tatsache, dass einige Tausend Menschen damals schwer traumatisiert überlebt haben und in Behandlung waren, gab es erstmals in größerem Umfang Material, das zeigte, dass es vielen dieser Überlebenden ähnlich ging. 20 bis 30 Jahre später kam die zweite Generation, und man stellte in Therapien fest, dass auch sie bestimmte, in ihrer Art ähnliche Probleme hatte. Manche Kinder zeigten sogar Symptome, als wären sie selbst im Konzentrationslager gewesen.

Welche Art von Symptomen meinen Sie?

Dazu gehören unerklärliche Angst, Bedrücktheit und innere Schwere bis hin zu Fantasien über eine diffuse, allgegenwärtige Bedrohtheit. Manche Kinder oder sogar Enkel haben den unerklärlichen Drang, ständig unterwegs sein zu müssen – auch bei Kälte und mit wenig Nahrung. Hintergrund kann sein, dass ein Elternteil oder naher Verwandter die Todesmärsche, zu denen die Nazis KZ-Insassen bei der Flucht vor den russischen Truppen gezwungen haben, nur knapp überlebte.

 

Viele Eltern wollen ihre Kinder vor dem Bösen in der Welt schützen und verschweigen ihnen deshalb, wenn etwas Schlimmes in der Familie passiert ist.

Das Spannende ist, dass ein Kind oft ganz genau spürt, wenn etwas verborgen werden soll, weil es den anderen verstehen will. Es merkt zum Beispiel, dass ein Erwachsener in bestimmten Situationen gereizt oder schlecht gelaunt oder schreckhaft ist. Das sind Rätsel für das Kind, die es sich erklären will.

Übertragen sich Traumata bei Tätern und Opfern in gleicher Weise?

Das scheint nur auf den ersten Blick so. Zwar spielt Scham bei Tätern wie Opfern eine Rolle. Bei den einen, weil sie eine Demütigung erlitten haben. Bei den anderen, weil ihre Kinder nicht merken sollen, dass die Eltern böse Dinge getan haben. Aber es gibt auch deutliche Unterschiede. Kinder von Verfolgten spüren etwas von der Bedürftigkeit ihrer Eltern und haben oft Schuldgefühle, wenn sie erwachsen werden und ihren eigenen Weg gehen wollen. Nach dem Motto: Ich kann doch nicht meine Eltern im Stich lassen und ein eigenes Leben führen. Ein weiteres kompliziertes Phänomen ist, dass sich Menschen, die verfolgt wurden, gelegentlich sehr aggressiv ihren eigenen Kindern gegenüber verhalten. Sind die Kinder trotzig, sagen sie: Hitler konnte uns nicht umbringen, aber ihr schafft das bald.

Das Schweigen der Täter erleben deren Kinder hingegen nicht als ein Beschütztwerden, vielmehr wollen Täter und Mitläufer sich selbst schützen. Sie wollen nicht dastehen als die Folterer und Mörder, die ihre Kinder in ihnen sehen könnten. Die Nachkommen der Täter und Täterinnen spüren häufig, dass sie belogen werden, dass ihnen Dinge verheimlicht werden, weil die Eltern ein Bild von moralischer Anständigkeit aufrechterhalten wollen.

„Wenn Sie mit Ihrem Kind irgendwann darüber sprechen, ist die Gefahr, dass es Ihr Trauma übernimmt, geringer“

Die Geschichte beginnt ja nicht mit dem Zweiten Weltkrieg und den Verbrechen der Nazis. Wie weit können denn Traumata in einer Familie zurückgehen?

Das kommt darauf an, wie lange etwas reproduziert und nicht thematisiert wird. Ich hatte vor kurzem Kontakt zu einer Frau, die sehr darunter gelitten hat, dass ihre Familie aufgrund des Wechsels von der katholischen zur protestantischen Religion vertrieben wurde. Das liegt schon neun oder zehn Generationen zurück. Dieses Gefühl – nur weil ihr das getan habt, sind wir vertrieben worden – trug sie bis in die Gegenwart.

Wie kann man bei all dem Ballast aus der Vergangenheit vermeiden, dass man seine Traumata unbewusst an die eigenen Kinder weitergibt?

Indem Sie sich damit auseinandersetzen. Sie geben es dann nicht weiter, wenn Sie es in eine bewusst erzählte und bearbeitete Geschichte verwandeln. Das ist das Paradox. Wenn Sie mit Ihrem Kind irgendwann darüber sprechen, ist die Gefahr, dass es Ihr Trauma übernimmt, geringer. Wobei dies eher für ungewollt entstandenes Leid gilt. Auch der Wechsel hin zur protestantischen Religion wurde ja nicht vollzogen, um den eigenen Familienmitgliedern Leid zuzufügen. Das kam durch die Vertreibung. Allerdings genügt das einfache Erzählen der Geschichte nicht mehr bei schweren Traumatisierungen. Wenn Menschen über lange Zeit der Willkür, Misshandlung und oft auch Todesdrohungen ausgesetzt waren. Diese Art von Trauma zerstört etwas in einem Menschen, zerrüttet sein Vertrauen in andere – und das verändert sogar Gene in den Betroffenen, wie Forschungen am Münchner Max-Planck-Institut nachweisen konnten.

Fotos: Moises Saman/Magnum Photos/Agentur Focus