G8 vs. G9, achtjähriges oder neunjähriges Gymnasium – das ist die schulpolitische Diskussion der vergangenen Jahre. Und es wird noch immer heftig gestritten, ob das Abitur besser in zwölf oder in dreizehn Jahren erworben werden sollte. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 war das Abitur nach dreizehn Jahren der Normalfall, nur in einigen ostdeutschen Bundesländern endete das Gymnasium schon mit Klasse 12 – ein Erbe des DDR-Schulsystems. Ab 2001 allerdings setzte mit den G8-Reformen ein Kurswechsel ein: Ein Bundesland nach dem anderen stellte auf das Abi nach zwölf Jahren um. Nach Protesten von Schülern, ihren Eltern und Lehrern beschlossen einige Bundesländer die bildungspolitische Rolle rückwärts und kehrten teilweise oder ganz zum Abitur nach dreizehn Jahren zurück. Ist der Schritt zurück richtig? Oder waren die G8-Reformen dringend nötig? Wir haben zwei junge Frauen gefragt, die selbst ein Turbo-Abi in den Händen halten.
Pro G8: Turbo-Abi, ja bitte!
Denn mit dem Abi nach 12 Jahren wird endlich nicht mehr die Zeit der Schüler verschwendet, sagt Flavia Lamprecht.
Sobald das Thema G8 aufkommt, sprechen Kritiker gerne vom „Bulimielernen“, dem schnellen „Wischiwaschi“ und vom „Durch-den-Unterrichtsstoff-Hetzen“. Es heißt: Schüler, die ihre Gymnasialzeit in acht Jahren absolvieren, haben durch vier bis sechs Unterrichtsstunden mehr pro Woche zu wenig Zeit für Freunde und Freizeit, sind gestresst und stehen unter einem hohen Druck. Darunter würden auch die Leistungen der Schüler leiden.
Ich selbst gehöre auch zu dieser angeblich so gestressten Generation G8. Mein Abi habe ich 2011 in Hamburg gemacht, Profil „Kunst und Geschichte“. Die Fächer Englisch und Deutsch habe ich auf erhöhtem Niveau belegt. Durch die Einführung der Doppelstunden und Profile haben wir meiner Ansicht nach bei weitem mehr gelernt. Den Leistungsdruck im G8 habe ich als erträglich empfunden. Daneben hatte ich genug Zeit, um mit Freunden fotografieren zu gehen, Tennis zu spielen oder Ausstellungen zu besuchen – und ich kann heute trotzdem Vektoren berechnen und Gedichte von Gottfried Benn analysieren. Dadurch, dass bei uns der Stoff komprimiert wurde und wir Schwerpunkte wählen mussten, hatten wir besonders intensive Lerneinheiten, aber ein komprimiertes Bildungsangebot impliziert schließlich immer gewisse Anforderungen. Nur mehr Wahlfreiheit hätte ich manchmal gerne gehabt. Daraus lässt sich jedoch nicht schlussfolgern, dass die Umstellung im Grundsatz schlecht ist.
Vielleicht nutzen wir G8ler unsere Freizeit gezielter und effizienter
Auch Experten sehen keinen Anlass zum Gejammer über G8. Axel Plünnecke, Leiter des Kompetenzfeldes „Humankapital und Innovation“ beim Institut der deutschen Wirtschaft Köln, kommentiert die Ergebnisse der Bildungsvermessung von G8 und G9 im Rahmen des „Bildungsmonitors 2014“ mit: „Spektakulär unspektakulär.“ Es gebe keine Hinweise auf große Diskrepanzen im Qualitätsgehalt und auch keinen schwindelerregend hohen Leistungsdruck, so Plünnecke.Zwar haben die G8-Schüler aufgrund ihres Stundenplans weniger Freizeit als die G9-Schüler, doch für Sport, Musik oder ehrenamtliche Tätigkeiten ist trotzdem noch Zeit. Die Schüler sind gleichermaßen zufrieden. Es kommt schließlich auch darauf an, wie die Freizeit genutzt wird. Vielleicht nutzen wir G8ler sie gezielter und effizienter.
Überhaupt: Junge Erwachsene können im neuen System nicht nur schneller mit der Schule fertig werden, sondern auch zügiger in das Berufsleben einsteigen und unabhängig sein. Das Modell ist sogar sparsam: Das Land muss weniger Kosten tragen, schließlich wird die Schullaufbahn um ein Jahr verkürzt, und der Abiturient gelangt schneller zu einem höheren Verdienst, da er in seiner beruflichen Laufbahn ein Jahr hinzugewinnt.
G8 füllt die Rentenkassen
Auch lässt sich der demografische Wandel bedenken, der Probleme bei der Finanzierung der Renten aufwirft. Hier wirkt der verkürzte Weg zum Abi lindernd: Die geburtenstarken Jahrgänge der 60er-Jahre werden immer älter, es werden aber nicht genügend Kinder geboren, die später deren Rente zahlen können. Ein Jahr weniger Schule übergibt dem deutschen Staat früher potenzielle Geldverdiener, die in die Rentenkassen einzahlen.
Wer nach dem Abitur nicht direkt studieren oder eine Ausbildung machen möchte, hat nun auch ein Jahr mehr Zeit. Etwa für Auslandsaufenthalte, für Praktika oder den Bundesfreiwilligendienst. Ich selbst habe nach dem Abi das gewonnene Jahr für verschiedene Praktika genutzt, habe unter anderem in London am National Theatre gearbeitet, mein eigenes Online-Magazin gegründet und konnte für mich klar definieren, dass ich Kultur- und Politikwissenschaften studieren möchte.
Die Zeit nach dem Abi ist wichtiger für die Orientierung
Manche sagen, das G8 lasse zu wenig Orientierungszeit – dabei ist die Zeit nach dem Abi viel wichtiger zur Orientierung, da man ohne Zeitlimit seinen Interessen nachgehen kann und unabhängig in der Wahl seiner Schwerpunkte ist. Nicht umsonst haben ja auch viele G9-Abiturienten nach dem Abschluss eine Auszeit eingelegt.
Im G9 wurde die Zeit der Schüler sehr ineffektiv genutzt. Ich bin froh, dass ich ohne großen Stress ein zusätzliches Jahr gewonnen habe – und vor allem auch, ohne etwas Wesentliches verpasst zu haben. Beim Unterrichtsstoff entscheidet eben nicht die schiere Masse, sondern vor allem die bewusste Auswahl und Qualität.
Flavia Lamprecht, 23 Jahre, studiert in Lüneburg Kultur- und Politikwissenschaften. Der Stress bewegt sich auf einem ähnlichen Level wie zu ihrer G8-Schulzeit: Zeit für Freunde und zum Fotografieren hat sie immer noch.
Contra: Turbo, nein Danke!
Das G8-System gönnt den Schülern keine Pause vom Lernen. Sozial ungerecht ist es auch noch, findet Louisa Zimmermann.
Unterricht bis in die Abendstunden, Mathenachhilfe als einziges Hobby und Bulimie-Lernen en masse – so sahen meine letzten Jahre auf dem Gymnasium aus. Ich habe gelernt, dass das Turbo-Abi nur diejenigen besonders gut schaffen, die nicht nach links oder nach rechts schauen, den Stoff auswendig lernen und ihn in Klausuren haargenau reproduzieren. Als Turbo-Abi-Absolventin 2015 wünsche ich kommenden Schülergenerationen, dass sie wieder mehr Zeit haben.
Das G8-System wurde aus ökonomischen und nicht aus pädagogischen Gründen eingeführt. Die Unternehmen wünschten sich jüngere Mitarbeiter, also sollten die Abiturienten jünger werden. Angesichts des demografischen Wandels schien die verkürzte Gymnasialzeit ebenfalls eine gute Idee zu sein. In einer alternden Gesellschaft mit immer mehr Rentnern müssen die Jüngeren entsprechend länger arbeiten, um die Rentenkassen zu füllen. Lieber ein Jahr früher die Schule beenden, als noch später in Rente zu gehen, empfahlen Wirtschaftsexperten. Für die betroffenen Schülerinnen und Schüler wie mich war das Turbo-Abi allerdings keine so gute Idee.
Wir können genauso viel wie die G9-Absolventen – aber um welchen Preis?
Immerhin: Die Bildungsmonitor-Studie 2014 des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln hat uns G8lern bescheinigt, dass wir zumindest nicht schlechter ausgebildet sind. Zwischen den Leistungen von G8- und G9-Abiturienten gebe es keine erheblichen Unterschiede, heißt es dort. Doch um welchen Preis? Dass G8-Schüler in den Abiturergebnissen nicht gravierend schlechter abschneiden als G9-Abiturienten, hängt nicht mit dem Schulsystem, sondern mit der Eigeninitiative der Schülerinnen und Schüler zusammen. Wer sich gründlich auf den Unterricht vorbereiten will, tut das – egal, ob er viel oder wenig Freizeit hat. G8-Abiturienten können schon mal auf eine Woche mit 40 Unterrichtsstunden kommen – und das umfasst nur den Unterricht; Hausaufgaben und Klausurvorbereitung kommen noch dazu. Was für ein heftiges Pensum das ist, habe ich in den vergangenen Jahren selbst erlebt. Nach und nach musste ich Freizeitaktivitäten wie Tanzen oder Yoga einstellen, bis ich gefühlt nur noch für die Schule lebte.
Mit einer Entlastung durch neun statt acht Schuljahre würde nicht nur mehr Freizeit, sondern auch mehr Zeit für Reflexionen und Diskussionen im Unterricht entstehen. Zwar wurden in meiner G8-Schulzeit aktuelle politische Themen aufgegriffen, eine Diskussion wurde aber – wenn überhaupt – nur für ein paar Minuten zugelassen. Der Lehrplan musste schließlich abgeklappert werden. In der zwölften Klasse konnten wir eine Tageszeitung kostenlos abonnieren. Auf dem Bestellschein stand, dass diese auch im Unterricht Anwendung finden würde. Letztendlich hat kein Lehrer mehr ein Wort über die Existenz dieses Abonnements verloren. Ich hätte mir auch Zeit dafür gewünscht, dass wir im Musikunterricht mal David Bowie analysiert oder im Deutschunterricht Sven Regener gelesen hätten.
Das Turbo-Abi ist sozial unfair
Die Geschwindigkeit beim Abitur nach zwölf Jahren bremst außerdem diejenigen aus, die nicht immer alles auf Anhieb verstehen: Gerade im Fach Mathematik mussten zu meiner Schulzeit viele Schülerinnen und Schüler Nachhilfestunden nehmen, weil der Stoff so schnell durchgepaukt oder die Lehrerin krank wurde. Doch Nachhilfeunterricht kann sich nicht jeder leisten. So wächst dank G8 die Ungleichheit zwischen Schülern aus einkommensstarken und -schwachen Familien, die in Deutschland sowieso schon extrem ausgeprägt ist.
An meiner Schule ist der Unterricht regelmäßig wochenlang ersatzlos ausgefallen, wenn unsere Lehrer krank waren. Gleichzeitig wurden von meinen Mitschülern und mir stets 100 Prozent Leistung erwartet. Jede Note ist mit in die Abiturwertung eingeflossen, schlechte Kurse konnten nicht gestrichen werden. Dieser permanente Druck hat dazu geführt, dass ich mich auch nach zwölf Jahren Schule nicht für ein Studienfach entscheiden konnte. Ich habe keine Zeit gehabt, darüber in Ruhe nachzudenken. So geht es auch vielen anderen. Deshalb wollen viele Abiturienten, die ich kenne, nach dem Abschluss erst mal durchatmen und legen ein sogenanntes Gap Year zwischen Schulende und Studium- oder Ausbildungsbeginn ein. Ein Jahr Zeit, um sich neu zu orientieren. Schlussendlich steigt so kaum jemand früher in den Beruf ein.
Echte Bildung ist wichtiger als ein früher Berufseinstieg
In Nordrhein-Westfalen oder Schleswig-Holstein dürfen die Schüler zwischen G8 und G9 entscheiden, in Baden-Württemberg feiert das neunjährige Gymnasium an Modellschulen sein Comeback. Niedersachsen ist sogar vollständig zum alten System zurückgekehrt. Diese Änderungen signalisieren, dass sich die Bildungspolitiker im Klaren sind über die Nachteile des G8-Systems und sich das Engagement von Eltern und Schülern gegen die Schulzeitverkürzung durchaus auszahlen kann. Den bildungspolitischen Entscheidungsträgern sollte es im Streit um das G8-System nicht nur um den frühen Berufseinstieg der Schüler gehen. Vielmehr sollte die umfassende und nachhaltige Bildung Priorität haben. Und dass unser Bildungssystem nicht noch ungerechter wird, als es ohnehin schon ist. Wenn die Bildungspolitiker das realisieren, können die kommenden Schülergenerationen wieder für das Leben lernen, nicht nur für die Schule.
Louisa Zimmer, 18, hat ihr Abiturzeugnis im vergangenen Sommer erhalten. Momentan lernt sie bei einem Praktikum, wie man Radiobeiträge schreibt, spricht und produziert.