Thema – Russland

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Recht auf Rave

Ein Kollektiv in St. Petersburg versucht, die Technokultur Russlands vor dem Aussterben zu bewahren. Die Partycrasher: Corona und der Staat

  • 5 Min.
Techno, St Petersburg

Sie kamen vier Uhr nachts und ohne zu klopfen. Aus dem Nichts standen 50 Polizisten zwischen den Feiernden, Maschinenpistolen in der Hand, Hunde an der Leine und leuchteten mit Taschenlampen in die verschwitzten Gesichter. „Dawai, dawai!“, brüllten sie, „los, alles aus den Taschen holen!“ Schnell kramten die Partygäste in ihren Hosentaschen und schmissen die Plastiktütchen zu Boden.

Die Strafen für Drogenbesitz sind hart in Russland, selbst geringe Mengen können einen 15 Jahre in den Knast bringen. Während die Polizisten die Drogen einsammelten, als wären es Jagdtrophäen, stellte sich ihr Hauptmann an die Bar und beäugte die Barkeeperin. „Na los“, sagte er. „Gib uns mal ’n Bier, du Fotze!“

Völkerfreundschaft, siebeneinhalb Meter unter der Erde

So erzählt es Kristina, 30 Jahre alt, eingehüllt in einen langen Wintermantel. „Das war im März 2021, eine der letzten offiziellen Partys hier im RAF25.“ Jetzt ist es Oktober, das Wetter in Sankt Petersburg ist nass und kalt, aber hier, tief unter der Erde, spielen Tages- und Jahreszeit ohnehin keine Rolle. RAF25, erklären Kristina und Mitgründer Philipp, stehe für „Russisch-Amerikanische Freundschaft“, eine Liebeserklärung an das Land, in dem Techno in den 1980er-Jahren entstand; das „25“ für die 25 Fuß, die der alte Sowjetbunker aus dem Kalten Krieg unter der Erde liegt. Ausgesprochen wird der Clubname auf Deutsch – schließlich gilt Deutschland neben den USA als Wegbereiter des internationalen Technobooms.

Kristina läuft durch den Raum, es knirscht unter ihren Stiefeln, von den Wänden läuft das Wasser und sammelt sich in den Rinnen am Fußboden. Sie bleibt vor dem Wandgemälde einer jungen Frau stehen: Alexandra Kollontai, die erste Frau der Welt, die ein Ministeramt bekleidete und nach der Revolution 1917 mit der Zarenherrschaft brach. „Nicht die sexuellen Beziehungen bestimmen das moralische Ansehen der Frau, sondern ihr Wert im Arbeitsleben“ war ihr Leitspruch. In Russland gilt sie bis heute als feministische Ikone. „Ein Vorbild“, sagt Kristina und bläst eine Dunstwolke in die Luft: „Hier ist es immer kalt, egal ob Sommer oder Winter.“ Es gebe nur zwei Möglichkeiten gegen die Kälte: „Tanzen!“ Und wer wollte, der konnte sich in den angrenzenden Darkrooms austoben. 

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Philipp
„RAF“ stehe natürlich für „Russisch-Amerikanische Freundschaft“, erklärt Philipp. Schließlich entstand Techno in den USA

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Darkroom
Twenty-five feet under: Im ehemaligen Bunker ist es so kalt, dass wohl niemand zum Tanzen aufgefordert werden muss

Mit queeren Technopartys kann man den autokratischen russischen Staat gut provozieren. Wie dem RAF25 ergeht es vielen Nachtclubs im Land. Kooperieren sie nicht mit der Polizei, droht ihnen die Razzia – und damit das Ende des Partybetriebs mit den für die Technoszene üblichen Freiheiten. So bleibt Techno in Russland etwas, was es in Deutschland früher einmal war: ein Aufbegehren gegen die Obrigkeit, ein Traum von einer anderen Gesellschaft, ohne Homophobie und Fremdenhass, in der jeder nach seiner Fasson glücklich werden kann. 

Das RAF25 gibt es nun offiziell nicht mehr. Die dritte Razzia in drei Jahren zog Kristina und Philipp den Stecker. Und auch die übrigen vier Gründungsmitglieder des Kollektivs hatten keine Lust mehr. Die Autokratie hatte gewonnen, zumindest vorerst: Das nächste große Projekt steht schon in den Startlöchern.

Im „Kikis“ in der Sankt Petersburger Innenstadt tropft es von der Decke. Ein mannshoher Eimer fängt das Wasser auf, rundherum herrscht Chaos. Wände werden bemalt, ein riesiger Elektroherd wird angeschlossen. An der Bar wischt Nastya – wasserstoffblonde Haare im Pagenschnitt – den Baustaub von den Gläsern. „Über uns, im Hostel, gab es einen Rohrbruch“, erklärt sie. „Wir haben längst Bescheid gesagt, aber die meinten nur: ‚Ja, ja, wir kümmern uns.‘“ Drei Tage sei das her. „Typisch Russland!“

Hinter den Razzien vermutet das Kollektiv korrupte Polizisten

Das Restaurant ist der neue Freiraum des Kollektivs. Etwa zwei Dutzend Menschen sind hier beteiligt, deutlich mehr als im alten Technobunker. Es gibt eine Bar, eine Küche und auch eine kleine Tanzfläche.

Gerade hat das Komitee getagt, alle Entscheidungen werden von den 25 Mitgliedern gemeinschaftlich abgestimmt – auch die Frage, ob man einem Reporter aus dem Ausland Einblicke gewährt. Viele schauen skeptisch, man könnte ja sonst wer sein. Bespitzelung sei hier normal, erklärt jemand aus dem Kollektiv. „Vermutlich wurden wir deshalb auch so häufig hochgenommen: Weil wir nicht bereit waren, das Schutzgeld der Polizei zu zahlen.“

Überprüfen lassen sich diese Vorwürfe nur schwer. Korruptionsfälle in der russischen Polizei wurden aber des Öfteren aufgedeckt. Erst im Sommer kam raus, dass die Verkehrspolizei der südrussischen Region Stawropol über Jahre Schmiergeld von Autofahrern und Truckern erpresste. Der Chef der Behörde ließ sich mit dem Geld seine Toilette vergolden.

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Philipp und Nastya
Nastya und Philipp haben schon das nächste Projekt: das Restaurant „Kikis“

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Alexandra Kollontai
Alexandra Kollontai ist eine RAF25-Ikone. Die Revolutionärin wurde 1872 in St. Petersburg geboren

Dass Russland ein gespaltenes Land ist, zeigt sich auch in der Corona-Krise: Laut einer Umfrage des russischen Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum halten ganze 61 Prozent das Coronavirus für eine biologische Waffe. Seit Wochen steigt die Sieben-Tage-Inzidenz. Derzeit liegt sie bei knapp 145, nur 41 Prozent der Bevölkerung sind Anfang Dezember vollständig geimpft. Seit Ende Oktober gilt in Russland daher erneut ein Lockdown. Und so droht auch dem „Kikis“ direkt die Schließung. „Aber wir sind in Russland. Hier gibt es immer einen Weg“, sagt Nastya. „Im Zweifelsfall: einfach mal machen und danach dumm stellen.“

Alle drei – Kristina, Philipp und Nastya – haben kein Problem damit, Tabus zu brechen. Es gäbe nichts, was sie dem russischen Staat abgewinnen können, dessen Führung sie ablehnen. „Wir kennen nur Putin“, sagt Philipp. „Er war schon immer da und wird vermutlich auch immer bleiben.“ Und danach? „Wer weiß das schon.“ Philipp sagt, er hoffe weiterhin, dass die russische Gesellschaft sich zum Guten verändert. „Ich versuche, mit meinen Partys einen Teil beizutragen.“

Anfang Dezember in Sankt Petersburg: Schnee und Eis bedecken die Kanäle der Stadt, der Lockdown geht in die nächste Runde. Für Gastronomie und Einzelhandel gilt ab sofort die 3G-Regel. Ab 23 Uhr müssen alle Restaurants schließen. Alle Partys, alle Events ab 40 Personen: streng verboten. Doch im RAF25 brennt noch Licht. Mehrere Hundert seien da gewesen, schreibt Kristina per Telegram, um den Club noch einmal gebührend zu verabschieden. „Zum Glück hat die Polizei nichts davon mitbekommen.“

Um die „Russisch-Amerikanische Freundschaft“ für die Nachwelt zu erhalten, haben sie die Räumlichkeiten in dreidimensional digitalisiert. Mit VR-Brille stehen die Türen des RAF25 jetzt für immer offen. 

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.