Am 11. Januar wählt Taiwan ein neues Staatsoberhaupt und ein neues Parlament. Taiwan – offiziell: Republik China – wird nur von wenigen Staaten als eigenständiges Land anerkannt; China beansprucht Taiwan als „abtrünnige Provinz“ für sich. Doch Taiwan hat sein eigenes System und ist, anders als Festlandchina, eine Demokratie. Die Straßen sind gesäumt von Plakaten und gerade die junge Generation diskutiert lautstark, wie sich der Ausgang der Wahl auf ihr Leben auswirken könnte. Seit 1996 streiten vor allem zwei Parteien um die Gunst der Wählerschaft: Die amtierende Präsidentin Tsai Ing-wen von der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) steht für eine größere Unabhängigkeit von China, die oppositionelle Kuomintang (KMT) mit ihrem Kandidaten Han Kuo-yu will engere Beziehungen zu China.
„Ich habe fünf Jahre lang in China gelebt. Ich will nie mehr dahin zurück.“
Chen Yueh Chi, 30, Studentin
Ich stimme für eine weitere Amtszeit von Präsidentin Tsai Ing-wen und der DPP. Ich habe fünf Jahre lang in China gelebt und dort Traditionelle Chinesische Medizin studiert. Es war sehr, sehr anders als hier – der Alltag, das Sozialleben, selbst meine Gedanken. Es gab viel mehr Polizei, überall waren Überwachungskameras. Ich hatte das Gefühl, nicht einfach sagen zu können, was ich dachte. Als hätte ich etwas auf dem Herzen, das nicht rausdarf. Ich will nie mehr dahin zurück.
Ich war auch in Hongkong, damals war die Polizei allerdings sehr nett. Wenn ich jetzt die Nachrichten schaue, wirkt es komplett anders. Warum sind die Einsatzkräfte so gewalttätig? Warum kämpfen sie gegen die Bevölkerung? Ich habe Angst, dass bei einem Machtwechsel etwas Ähnliches in Taiwan passieren könnte. Wir haben hier eine Demokratie, und unsere Menschenrechte werden geachtet. Ich will nicht, dass wir das verlieren, und hoffe, dass wir den Konflikt mit China friedlich lösen können. Wenn ich mir anhöre, was Chinas Staatschef Xi Jinping sagt, stehen die Chancen dafür aber vielleicht bei einem Prozent.
„Mit 18 Jahren gelten wir als erwachsen und sind voll schuldfähig, aber unsere Stimme abgeben dürfen wir nicht? Das ist doch unfair!“
Oliver Chen, 19, Student
Ich jobbe gerade als Wahlhelfer für Tsai Ing-wen, um ein bisschen was zu verdienen, aber auch, um zumindest irgendeinen Einfluss auf die Wahl zu haben – wählen darf ich nämlich nicht. In Taiwan gilt das Wahlrecht ab 20, und ich bin erst 19. Mit 18 Jahren gelten wir als erwachsen, müssen Verantwortung tragen und sind voll schuldfähig, aber unsere Stimme abgeben dürfen wir nicht? Das ist doch unfair! Ich bin dafür, das Wahlalter auf 18 herunterzusetzen, so wie es bei euch in Europa ist. Ich habe gehört, dass ihr zum Teil schon mit 16 wählen dürft? Nur bei Referenden kann ich mitstimmen, da wurde das Wahlalter vor zwei Jahren auf 18 heruntergesetzt.
„Han Kuo-yu ist mehr oder weniger eine taiwanesische Version von Trump: populistisch, fremdenfeindlich und sexistisch.“
Lio Peng, 18, Student
Dürfte ich schon wählen, würde ich für die DPP stimmen. Lieber wäre mir aber, es würde mehr starke Parteien zur Auswahl geben als nur DPP und KMT. Klar, es gibt noch andere, aber die haben kaum etwas zu sagen. Mit mehr unterschiedlichen Stimmen im Parlament würde es vielleicht weniger ideologische Grabenkämpfe geben. Ich kenne keine einzige Person in meinem Alter, die für die KMT ist – ältere Leute dafür zuhauf, zum Beispiel meine Eltern. Wir streiten zu Hause oft darüber. Ich habe auch Verwandte, die in der KMT sind und aktiv mitmachen. Deren Präsidentschaftskandidaten Han Kuo-yu unterstützen sie aber nicht. Er ist mehr oder weniger eine taiwanesische Version von US-Präsident Trump: populistisch, fremdenfeindlich und sexistisch.
„Wenn wir uns China nähern, wird uns irgendwann dasselbe passieren wie Hongkong.“
Jason, 25, Tourguide und Musiker
Es macht mir Angst, wie die Behörden in Hongkong durchgreifen. Wenn wir uns China nähern, wird uns irgendwann dasselbe passieren. Ich habe mich oft für Freiheit ausgesprochen, auch mit meiner Hardcore-Metal-Punk-Band. Hätte China die Kontrolle über Taiwan, würde ich vielleicht eines Tages einfach vom Erdboden verschwinden!
Mit unseren Songs versuchen wir den Druck abzubauen, der auf uns lastet. Die taiwanesische Gesellschaft ist nämlich immer noch sehr konservativ, das Bildungssystem ist altmodisch und strikt. Wir sitzen von morgens bis abends in der Schule und müssen die ganze Zeit irgendetwas leisten und uns miteinander vergleichen. Es gibt eine riesige Kluft zwischen den Generationen. Ältere Menschen würden mich zum Beispiel niemals als echten Musiker bezeichnen – das kann schließlich nur jemand sein, der Klavier oder Geige spielt.
Viele junge Taiwanesen haben oder hatten wegen dieses Drucks Depressionen – mich eingeschlossen. Ich habe das auch in einem Lied thematisiert. Viele Leute im Publikum haben dabei angefangen zu weinen – ich glaube, weil sie sich damit identifizieren können.
„Die Angst, dass wir durch die KMT unsere Freiheit verlieren könnten, ist doch völlig überzogen.“
Linda Wang*, 29, arbeitet für ein internationales Unternehmen
Ich möchte lieber anonym bleiben. Anhänger der DPP und auch der KMT können radikal sein, deshalb vermeide ich es, in der Öffentlichkeit über Politik zu reden. Ich stimme für die KMT und auch für ihren Präsidentschaftskandidaten Han Kuo-yu. Ich habe positive Veränderungen in der Stadt Kaohsiung miterlebt, nachdem Han vor einem Jahr zum Bürgermeister gewählt wurde. Er hat die Infrastruktur verbessert: Straßen saniert, die Bürgersteige renoviert und die Abwasserkanäle von Schlamm reinigen lassen, was gerade während der Regenzeit wichtig ist. Verstopfte Kanäle sorgen da regelmäßig für Überschwemmungen. Und: Er hat sich nicht nur um das Zentrum gekümmert, sondern auch um abgelegene Gebiete.
Davor wurde Kaohsiung jahrzehntelang von der DPP regiert. Sie haben sich nicht um die einfachen Leute gekümmert. Jetzt schürt sie Ängste und zieht Parallelen, die in Wirklichkeit gar keine sind. Die Beziehungen zwischen China und Hongkong sind ganz anders als die zwischen China und Taiwan: Hongkong wurde an Großbritannien verpachtet. Es war klar, dass China es irgendwann zurückhaben will. Die Angst, dass wir durch die KMT unsere Freiheit verlieren könnten, ist doch völlig überzogen: Von 2008 bis 2016 hatten wir einen Präsidenten von der KMT – und es hat überhaupt keine Gefahr für Taiwan bestanden.
„Wenn man nicht frei ist, ist auch das höchste Gehalt nichts wert.“
Mark Hsu, 26, hat einen kleinen Online-Shop
Ich bin mir nicht sicher, ob Tsai Ing-wens Politik das Beste für Taiwans Wirtschaft ist – schließlich haben sich unsere Beziehungen zu anderen Staaten und natürlich zu China verschlechtert, seitdem ihre Partei an der Macht ist. Die Gehälter für Angestellte sind zu niedrig, die Mieten viel zu hoch. Ich habe mich deshalb mit Freunden selbstständig gemacht – mit einem Onlineshop für Lifestyleprodukte. Damit kennen wir uns aus. Mit Politik dagegen nicht wirklich. Wir wissen aber, dass Demokratie nötig ist, um so leben zu können, wie wir wollen. Deshalb wählen wir die DPP. Ganz ehrlich: Wenn man nicht frei ist, ist auch das höchste Gehalt nichts wert.
*Name der Redaktion bekannt
Titelbild: Kyodo News via Getty Images