Im Sommer 2016 wurde ein Gedicht an einer Berliner Hausfassade zum Politikum. Studierende der Alice Salomon Hochschule bezeichneten Eugen Gomringers dort angeschriebenes „avenidas“ als sexistisch. Nach wochenlangen Diskussionen beschloss der Akademische Senat Anfang letzten Jahres, das Werk des schweizerisch-bolivianischen Dichters mit einem neuen Gedicht übermalen zu lassen. Die Wahl fiel auf die Lyrikerin Barbara Köhler, die eine eigene Antwort auf „avenidas“ schuf. Von nun an soll die Fassade alle fünf Jahre mit einem neuen Gedicht bespielt werden.
Ruhe kehrte deshalb nicht ein. Kulturstaatsministerin Monika Grütters empfand dies als einen „Akt der Kulturbarbarei“, der Urheber bekannte: „Ich habe die Debatte nicht verstanden.“ In der Nachbarschaft tauchte jüngst das Gedicht an einer anderen Hausfassade auf.
Höchste Zeit also jemanden vom Fach zu fragen. Professor Dr. Elisabeth Paefgen lehrt an der Freien Universität Berlin seit 2003 Didaktik der deutschen Sprache und Literatur. Wie interpretiert sie das Gedicht – und wie den Streit, der darum entbrannt ist?
Fluter.de: Sechs Jahre lang war auf der Fassade der Alice Salomon Hochschule zu lesen: avenidas/avenidas y flores/flores/flores y mujeres/avenidas/avenidas y mujeres/avenidas y flores y mujeres y/un admirador. Auf Deutsch: Alleen/Alleen und Blumen/Blumen/Blumen und Frauen/Alleen /Alleen und Frauen/Alleen und Blumen und Frauen und ein Bewunderer. Finden Sie „avenidas“ diskriminierend?
Elisabeth Paefgen: Keinesfalls. Es ist schon seit den 1960er Jahren im Deutschunterricht thematisiert worden, auch in der Grundschule. Ich mochte das Gedicht schon immer. Diskriminierung habe ich da nie herausgelesen.
Einige Studierende der Alice Salomon Hochschule schon. Ihnen zufolge reproduziert das Gedicht „nicht nur eine klassische patriarchale Kunsttradition, in der Frauen* ausschließlich die schönen Musen sind, die männliche Künstler zu kreativen Taten inspirieren“, sondern erinnere „zudem unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen* alltäglich ausgesetzt sind.“
Das Schöne an „avenidas“ ist doch seine Offenheit. Dadurch, dass es keine Verben enthält, sondern nur Substantive, lässt es Raum für Deutung.
In der Lesart der Studierenden wird die Frau bei Gomringer zum Objekt herabgewürdigt. Alleen, Blumen, Frauen würden allesamt nur dazu dienen, dem männlichen Beobachter zu gefallen.
Das steht da so nicht. Alles, was Gomringer tut, ist vier Substantive aneinanderzureihen. Es steht jedem frei, dies zu deuten.
Besonders am Wort „Bewunderer“ haben sich viele gestoßen.
Bewunderung ist doch etwas Schönes. Sie tut niemandem weh, sie verletzt nicht. Ich kann darin nichts Falsches sehen.
Gomringer gilt als Begründer der Konkreten Poesie, auch „avenidas“ gehört zu dieser Gattung. Was zeichnet sie aus?
Konkrete Poesie orientiert sich sehr stark an Sprache, nicht am Inhalt. In wenigen Worten wird eine Welt entworfen. Gleichzeitig muss man auch den historischen Kontext sehen. Geschrieben wurde es 1951, veröffentlicht zwei Jahre später. Sicher war es eine Reaktion auf den Missbrauch von Sprache in den 1930er- und 1940er-Jahren.
Der historische Bezug ging in der Debatte vollkommen unter…
Das muss ja auch nicht sein, „avenidas“ kann auch für sich alleinstehen. Ein Gedicht, das bleiben wird, ganz im Gegensatz zu jenem von Barbara Köhler.
Lassen Sie uns über dieses namenlose Gedicht sprechen. Es lautet:
SIE BEWUNDERN SIE/BEZWEIFELN SIE ENTSCHEIDEN:/SIE WIRD ODER WERDEN GROSS/ODER KLEIN GESCHRIEBEN SO/STEHEN SIE VOR IHNEN IN IHRER SPRACHE/WÜNSCHEN SIE IHNEN/BON DIA GOOD LUCK
Was lesen Sie da heraus?
Köhler bleibt unentschieden. Sie will es allen rechtmachen, den gekränkten Studierenden, dem Urheber des Originalgedichts, denjenigen, die jetzt „Zensur“ rufen. Was für eine Botschaft soll das sein? Kunst ist nicht für Kompromisse zuständig und auch nicht für politische Korrektheit.
Wie erklären Sie sich das katalanische BON DIA und das englische GOOD LUCK?
Das katalanische BON DIA nimmt Bezug auf die spanische Sprache des Originals. GOOD LUCK wirkt ein wenig anbiedernd. Es soll vielleicht die junge Generation ansprechen, die Englisch und Deutsch ganz selbstverständlich mischt. Vielleicht ist es auch als ein leichter, heiterer Abschluss des Gedichts zu verstehen.
„Ich bin froh, dass das Gedicht in fünf Jahren wieder übermalt wird“
Was sagen Sie zur sprachlichen Gestaltung?
Dadurch, dass man das SIE in den ersten beiden Zeilen sowohl vorwärts als auch rückwärts lesen kann, entsteht eine Unklarheit in der Bedeutung. Die zweite und dritte Strophe sind metapoetisch, das heißt, sie nehmen Bezug auf das Dichten selbst. Damit beschäftigen sich die Studierenden der Alice Salomon Hochschule doch nicht! Gomringers Original hingegen grenzt niemanden aus. Jeder Drittklässler kann damit etwas anfangen.
Dieses Original ist in Kleinbuchstaben verfasst…
… was ganz typisch ist für Konkrete Poesie, da so jegliche Hierarchisierung der Worte vermieden wird.
Köhlers Zeilen sind dagegen nur in Großbuchstaben verfasst.
Meines Wissens nach schreibt im Moment niemand nur in Versalien, das ist ja auch nicht schön. Köhler tut das auf dieser Fassade vielleicht gerade im Unterschied zu dem Original.
Ursprünglich sollte daraus ein Palimpsest werden, also eine Überschreibung.
Einer meiner Studenten, der täglich an dem Gebäude vorbeifährt, sagte, dass nicht mehr viel zu sehen sei vom Original. Dabei mochte ich die Idee, weil die beiden Texte somit in einem Zusammenhang stehen würden. Ich frage mich sowieso, warum die gekränkten Studentinnen kein neues Gedicht geschrieben haben, anstatt das fünfundsechzig Jahre alte Original verbannen zu wollen.
In einem Deutschlandfunk-Interview antwortete Köhler auf die Frage, ob es mehr Gedichte brauche im öffentlichen Raum: „Bloß nicht!“ Wie sehen Sie das?
Doch! Unbedingt! Ganz viele! Bloß Köhlers Gedicht gehört nicht dorthin, weil es voraussetzt, dass man den Diskurs kennt. Ich bin froh, dass es in fünf Jahren wieder übermalt wird.
Titelbild: Britta Pedersen/dpa