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Die Spieltheorie kann komplexe Konflikte runterbrechen

Bluffst du?

Die Spieltheorie kann helfen, komplexe Konflikte zu verstehen

Was haben die eigene Wahlentscheidung und Chinas Außenpolitik gemeinsam? Worin ähneln sich Covidpandemie und Klimakrise? Bei all diesen Phänomenen bestimmt nicht eine Person allein, was passiert, sondern viele Akteure entscheiden – und reagieren aufeinander.

Genau damit beschäftigt sich die Spieltheorie. An der Grenze von Wirtschaftswissenschaft und Mathematik versucht sie, zu analysieren, wie sich Menschen in Verhandlungs- und Konfliktsituationen gegenseitig beeinflussen. Die Stärke von Interessen oder der Grad an Rationalität lassen sich natürlich schwer berechnen. Trotzdem können spieltheoretische Modelle helfen, potenzielle Entscheidungen vorhersehbarer zu machen.

Gefangenendilemma

Das wohl bekannteste Szenario der Spieltheorie ist das Gefangenendilemma: Zwei Gefangene werden wegen einer gemeinsamen leichten Straftat überführt und unabhängig voneinander verhört. Im Raum steht auch eine größere Straftat mit einer langen Haftstrafe.

fluter-Cover Spiele

Dieser Text ist in fluter Nr. 87 „Spiele” erschienen.

Wenn beide zusammenarbeiten und die schwere Tat leugnen, profitieren beide – zumindest ein bisschen. Sie würden nur für kurze Zeit ins Gefängnis kommen, da die Polizei ihnen die schwere Tat nicht nachweisen kann. Demgegenüber steht die Möglichkeit, für sich allein das Maximum rauszuholen: selbst gestehen und den anderen beschuldigen, während der schweigt. Der Geständige käme als Kronzeuge frei, während der andere für lange Zeit ins Gefängnis muss. Wenn aber beide gestehen und sich gegenseitig belasten, müssten beide für die schwere Tat ins Gefängnis.  Zusammengefasst: Der Anreiz zur Kooperation mit dem Komplizen (indem man die schwere Tat leugnet) ist hoch, gleichzeitig besteht die Gefahr, richtig viel zu verlieren, wenn man als Einziger schweigt.

Das lässt sich vereinfacht auf Pandemien wie Covid übertragen – unter der Annahme, dass die beste Lösung für alle ist, ihre Kontakte einzuschränken. Durch diese Kooperation wäre eine Pandemie schneller eingedämmt, alle könnten nach einer Zeit der Isolation wieder ihrem Alltag nachgehen. Eine Person für sich genommen hätte dagegen den größten Vorteil, wenn alle anderen sich einschränken, nur sie nicht: Sie würde wahrscheinlich gesund bleiben, könnte sich aber weiter frei bewegen. Genau diese persönliche Freiheit ist ein großer Anreiz, nicht zu kooperieren. Das schlechteste Ergebnis wäre dann, wenn niemand kooperiert: Das Virus verbreitet sich, Menschen erkranken.

Eine Lösung, dieses Dilemma zu überwinden, wäre, individuelle Interessen hinter das Gemeinwohl zurückzustellen. Während der Covidpandemie hat beispielsweise der Staat durch entsprechende Kommunikation und Regeln wie das Infektionsschutzgesetz versucht, diese Logik zu unterstützen, und viele Menschen haben sich trotz der starken Eingriffe in die individuellen Grund- und Freiheitsrechte daran gehalten. Dass diese Bereitschaft Grenzen hat und menschliches Verhalten nicht nur von spieltheoretischen Überlegungen bestimmt ist, zeigen die Kontroversen während der Pandemie.

Tragik der Allmende

Dem Gefangenendilemma nicht unähnlich ist die Tragik der Allmende. Die Allmende beschreibt ein gemeinschaftliches Eigentum, wie einen Ozean, aus dem alle Menschen fischen. Die Tragik: Dieses Gut ist endlich, und es wird nicht nachhaltig damit gewirtschaftet. Es droht eine Übernutzung, die schlussendlich negative Auswirkungen für alle hat. Auch die Erdtemperatur ist ein gutes Beispiel: Demnach steht hier der Schutz des allgemeinen Guts im Konflikt mit individuellen Interessen, nämlich den Kosten und Einschränkungen, die mit entschlossenem Klimaschutz einhergehen. Rational würden es wohl die meisten vorziehen, wenn andere die Kosten für den Klimaschutz trügen, sie aber von einem lebenswerten Planeten profitierten.

Es ist die Kernfrage von Klimaverhandlungen: Warum sollten Staaten oder Individuen ihre Emissionen senken, wenn sie nicht sicher sein können, dass andere es auch tun? Das Gute: Güter, die allen gehören, also praktisch niemandem, lassen sich etwa durch gemeinsame Regeln und gemeinschaftliche Entscheidungen, aber auch durch Überwachung und Sanktionen nachhaltig nutzen. Sicher ist: Am Ende verlieren alle, sollte niemand kooperieren und die Emissionen senken.

Schönheitswettbewerb

Der Ausgang von Wahlen hängt nicht zwangsläufig an der Performance von Personal und Parteien. Auch spieltheoretische Erwägungen können die Wahlentscheidung beeinflussen. Der Schönheitswettbewerb, nach dem britischen Ökonomen John Maynard Keynes, geht auf frühere Preisausschreiben US-amerikanischer Zeitungen zurück. In denen sollten die Lesenden aus Aufnahmen von potenziellen Schönheitsköniginnen nicht das Foto aussuchen, das sie selbst am hübschesten fanden, sondern das, welches ihrer Meinung nach die meisten anderen Lesenden als das schönste auswählen würden.

Wendet man Keynes’ Modell auf Wahlen an, tritt auch dort das Verhalten anderer neben die eigene Einstellung oder Entscheidung. Auf Wahldeutsch nennt sich das eine „strategische Wahlentscheidung“: Etwa auf Grundlage nicht immer zuverlässiger Wahlumfragen berechnet man schon vor der Wahl ein, wie die Mehrheit der Gesellschaft wählen wird. Und wählt daraufhin eventuell eine andere als die eigentlich bevorzugte Partei, um das Gesamtwahlergebnis möglichst in Richtung der eigenen Position zu beeinflussen. Das Ziel: die eigene Stimme nicht zu verschenken.

Chicken Game

Unter Jugendlichen in den USA soll es folgendes Spiel gegeben haben: Zwei sitzen in ihren Autos und rasen frontal aufeinander zu. Beide wollen natürlich die Kollision vermeiden – sofern sie rational denken. Aber: Wer zuerst ausweicht, das Chicken, hat verloren. In diesem Sinne spielen in Tarifverhandlungen die Gewerkschaften mit den Arbeitgebern das Chicken Game. Beide Konfliktparteien gehen mit ihren Maximalforderungen in die Verhandlungen. Gibt niemand nach, droht der Arbeitskampf – ein Ergebnis, das sowohl Arbeitgebern (Produktions- und Umsatzausfälle) als auch Arbeitnehmern (Lohnausfälle) schadet.

Gleichzeitig spielen aber andere Interessen eine Rolle, zum Beispiel die Glaubwürdigkeit der eigenen Verhandlungsposition. Um die zu stärken, kann es für beide Seiten lukrativ sein, sich als irrational zu inszenieren. Wenn dadurch eine Kollision wahrscheinlicher scheint, bringt das die Gegenseite möglicherweise früher zum Einlenken. Würde die Gewerkschaft zum Beispiel glaubhaft mit Streik drohen, also den Anschein erwecken, sie nähme eine Kollision billigend in Kauf, kann sich das entscheidend auf das Verhalten der Arbeitgeber auswirken.

Salamitaktik

Die Salamitaktik ist eine beliebte Lesart militärischer Konflikte. Sie ist einfach zu erklären und meint, sich politischen Zielen scheibchenweise und unauffällig zu nähern. Immer unterhalb der Schwelle, die eine Reaktion provoziert. Mit dieser Politik der kleinen Schritte lassen sich Gegner zermürben und Sanktionen vermeiden, während man gleichzeitig nach jeder Scheibe seine Unschuld beteuern kann. Chinas Verhalten gegenüber Taiwan kann mit der Salamitaktik erklärt werden. Mit Schießübungen nahe der taiwanesischen Hoheitsgewässer, Raketentests und verstärkter militärischer Präsenz versucht die Volksrepublik, die Kontrolle Taiwans über seine Souveränität Schritt für Schritt auszuhöhlen.

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