Für drei Dinge auf der Welt würde Héc-tor Reinoso, 30, Logistikfachmann, alles geben: für seinen Sohn, vier Jahre alt, Radfahrer mit Stützrädern; für River Plate, den Fußballclub aus Buenos Aires; und für Campo de Herrera, das Dorf im Nordwesten Argentiniens, in dem er aufgewachsen ist, in dem schon sein Großvater wohnte. 

"Weil es der beste Ort der Welt ist", sagt Reinoso. Er steht unter dem Vordach seines einstöckigen Häuschens und lässt den kleinen Jonathan nicht aus den Augen, der waghalsige Manöver auf dem Gehsteig unternimmt. Die Sonne brennt. Nicht mal der Hahn des Nachbarn kräht mehr. Kein Luftzug, der den Staub aufwirbelt, die Hitze steht auf den ungeteer-ten Straßen. 

Campo de Herrera hat 2200 Einwohner, aber es steht auf keiner Landkarte. In diesem Dorf gibt es auch keine Polizei, keinen Pfarrer, kein Krankenhaus, keine Festnetztelefone und keine Analphabeten, keine unterernährten Kinder. Und das in der Provinz Tucumán, einer der ärmsten Argentiniens, in der nur 40 Prozent der Menschen einen festen Job haben und eins von fünf Kindern nicht genug zu essen hat. Campo de Herrera erscheint wie eine Oase der Menschlichkeit: Es ist ein Dorf, in dem die Bewohner Geld sammeln, wenn einer krank wird, damit er die Arztkosten nicht allein bezahlen muss; in dem die Gewinne ebenso geteilt werden wie die Sorgen; in dem die Leute nachts die Türen nur schließen, damit die Hunde nicht reinkommen. 

Es ist ein Ort, in dem die Einwohner "die Sterne schmelzen, um aus ihnen Honig zu machen und ihn an die Münder der Menschen in der Heimat zu verteilen". So hat ein Dichter jene Gemeinschaft beschrieben, die die Zuckerrohr-Arbeiter vor vierzig Jahren gegründet haben. Damals, während der Zuckerkrise in den Sechzigerjahren, verloren in Argentinien mehr als 200 000 Arbeiter ihre Jobs. Die meisten zogen in die Großstädte, siedelten sich in Elendsvierteln an. In Campo de Herrera dagegen beschlossen 118 Arbeiter zu bleiben. "Wir waren völlig am Ende", sagt Don Luis Valdez, 75, wie Reinosos Großvater ein Gründungsmitglied der Kooperative. "Wir bekamen kein Arbeitslosengeld, nichts. Unsere Familien hungerten, wir lebten in elenden Hütten, ohne Strom." Don Luis und die anderen verzweifelten Familienväter warfen ihre Abfindungen zusammen, nahmen zusätzlich einen Kredit auf, kauften 2000 Hektar Land, zehn Traktoren, arbeiteten weiter und wählten von nun an ihre Chefs in geheimer Abstimmung aus den eigenen Reihen. Jedes Jahr neu. "Uns blieb nur die Flucht nach vorn", sagt Don Luis. "Das Einzige, was wir hatten, waren die Hoffnung und unsere Arbeitskraft." 

Dass das Dorf einzigartig sei, habe er schon als Kind gemerkt, sagt Reinoso: "Immer wieder kamen Studenten, um uns zu studieren." Zum Beispiel eine angehende Psychologin, die in einer Studie den Mut der Gründer hervorhebt, "die alten Strukturen aufzugeben" und "der Bildung und sozialen Zielen die gleiche Bedeutung einzuräumen wie wirtschaftlichen oder wie der Verwaltung". Heute exportiert die Kooperative der Vereinten Arbeiter (CTU) jedes Jahr Zitronen nach Europa und in die USA, verkauft in Argentinien Zuckerrohr, Erdbeeren und Lehmziegel. "Reich ist das Dorf nicht geworden", sagt Reinoso, "aber es genügt zum Leben."

Die Kooperative hat 126 Mitglieder. Damit es genug Arbeit für alle gibt, herrscht ein Aufnahmestopp. Deshalb muss Héctor Rei-noso warten, bis sein Vater in Rente geht und ihm seinen Platz in der Kooperative abtritt. "Fünf Jahre noch", schätzt er. Doch auch wenn nur ein kleiner Teil der Einwohner zur Kooperative gehört, profitieren die Leute in Campo de Herrera von der Gemeinschaft: Zumindest während der Erntezeit finden sie Arbeit im Dorf, können mit dem Bus der Kooperative ins nächste Dorf fahren und müssen keine Miete für ihre Häuser zahlen.

Die einzige asphaltierte Straße in Campo de Herrera führt vorbei am Dorfplatz, in dessen Mitte die argentinische Flagge gehisst ist, vorbei an der weiß getünchten Schule und dem Verwaltungsgebäude der Kooperative. Immer geradeaus, bis irgendwann die Erdbeerfelder kommen, die Zitronenbäume, die Felder, auf denen das Zuckerrohr gerade frisch gesät wurde. Neben dem Dorfplatz grast der Silvesterbraten, ein einsames Hausschwein, angebunden an einen Baum. Die Steinbänke auf dem Platz sind leer, es ist ein Arbeitstag in Campo de Herrera. Der beginnt morgens um sieben, wenn die Aufgaben für den Tag verteilt werden: "Nummer 47 – zum Düngen. Nummer 117 auch. 136, 90, 191 fahren Herbizide aus." Das mit den Nummern gehe schneller, als die Namen zu nennen, sagt "El Tata" Orosco, der Leiter der Personalplanung. Er trägt eine Schirmmütze, Werbegeschenk einer Versicherungsgesellschaft. Die Arbeiter warten. Wer aufgerufen wird, macht sich auf den Weg. "Heute müssen ein paar von denen, die sonst Lehmziegel herstellen, bei der Erdbeerernte helfen", sagt Orosco, "das mögen sie nicht besonders." Aber die Arbeiter steigen auf ihre Fahrräder, ohne zu murren. Wer einem Vorgesetzten widerspricht, kann von der Arbeit suspendiert werden. Disziplin ist oberstes Gesetz, seit vierzig Jahren, seit es die Kooperative gibt. Solidarisches Zusammenleben heißt hier nicht nur, dem anderen zu helfen. Es bedeutet auch, dass alle arbeiten. Ohne Ausnahme. Ohne Verspätung. 

"Zuckerrohr schneiden ist ein harter Job, wir mussten als Kinder früher mit aufs Feld, da fehlte immer wieder mal einem Kleinen ein Finger oder eine Hand", sagt der alte Don Luis Valdez, der seinen Platz in der Koope-rative längst an einen seiner drei Söhne weitergegeben hat, der taubstumm ist und nun als Mechaniker vor allem Traktoren repariert. Mit den anderen beiden betreibt er eine Metzgerei. "Wir wollten, dass es unsere Kinder besser haben als wir", sagt Don Luis. "Die Gesetze im Dorf haben wir selbst gemacht, sie gelten bis heute, deshalb brauchen wir auch keine Polizei." 

Von den 118 Gründern konnten nur drei lesen und schreiben, mit der Hilfe eines Agrar-ingenieurs setzten sie ihr Regelwerk auf: Wer betrunken auf dem Dorfplatz herumpöbelt, wird für einen Tag von der Arbeit suspendiert. Wer seine Kinder nicht zur Schule schickt, bekommt Lohnabzüge. Wer klaut, muss das Dorf verlassen. Ziel war ein "wettbewerbs-orientiertes Unternehmen, das expandiert und den Mitgliedern nicht weniger als 300 Tage im Jahr Arbeit bietet und einen würdigen Monatslohn", so steht es im Statut. "Die Leute in den Nachbarorten nannten uns Kommunisten, aber wir hatten keine politische Ideologie. Wir wollten nur unsere Lebensgrundlage sichern", sagt Don Luis. Seine Brille ist geputzt, das Hemd gebügelt. 

Die Solidargemeinschaft funktioniert seit 1967: Jede Familie bekommt ein Grundstück – 10 mal 30 Meter groß – und 6000 Lehmziegel, um sich daraus ein Haus zu bauen. Alle Arbeiter erhalten den gleichen Lohn. Der Bus der Kooperative bringt die Kinder zur Schule und die Toten auf den Friedhof. Die Kooperative bietet Computerkurse für alle an. Behinderte wie der taubstumme Sohn von Don Luis werden integriert.

Die Erwachsenen leben Solidarität vor, die Kinder kopieren sie. Rocío Serrizuela ist elf Jahre alt, sie steht in der Mitte des Klassenzimmers, wie alle Kinder trägt sie einen weißen Schulkittel. Das Mädchen mit den gro-ßen braunen Augen spricht eloquent wie eine Gewerkschaftsfunktionärin: "Wir Schüler haben eine Kooperative gegründet, weil wir anderen helfen wollen", sagt sie, "wir haben Kuchen verkauft und das Geld einer Señora gegeben, die krank ist und niemanden hat." Hinten im Klassenzimmer steht ein Holzschrank, in dem die Kinder Hefte und Stifte sammeln. "Wenn sich jemand keine Hefte leisten kann, haben wir hier welche", sagt Rocío, Sprecherin der Schüler-Kooperative. Ihr Onkel ist Vizepräsident der "Ko-operative der Großen", wie die Kinder die CTU nennen. "Die Idee kam von den Kindern", sagt die Lehrerin stolz, "sie haben eine Urne gebastelt und in einer Wahl Positionen wie Präsident und Schatzmeister besetzt."

In einer Hinsicht sind die Kinder schon wesentlich weiter als "die Großen": Sie haben die Machogesellschaft abgeschafft. Alle Schlüsselpositionen werden von Mädchen besetzt. Die CTU hat nur ein weibliches Mitglied, Betty Gonzales. Gonzales rückte für ihren Vater in die Kooperative nach, sie ist die einzige Frau, die an den Versammlungen teilnehmen kann und stimmberechtigt ist. Sie musste sich ihren Platz erkämpfen, arbeitete lange in der Hühnerzucht, auf dem Feld, bis sie den Job bekam, den sie wollte: in der Verwaltung. Jetzt unterscheidet sie von den Männern nur noch eins: Freitags hat sie frei, damit sie das Bürogebäude der Kooperative putzen kann. 

Nebenan, hinter einem weiß gestrichenen Gebäude, das wie eine Turnhalle aussieht, steht eine andere Frau an einem großen Suppentopf auf dem Rost. Ein paar Holzscheite glühen darunter. Chabela del Valle ist Tochter eines Gründers der Kooperative, aber für sie war kein Platz: Für jedes Mitglied, das ausscheidet, kann nur ein Sohn oder eine Tochter nachrücken. Und auch das nur, wenn die 14 Funktionäre im Verwaltungsrat zustimmen. Wer Mitglied in der Kooperative wird, hat das große Los gezogen, ein Job auf Lebenszeit, mit Krankenversicherung. "Meinem Mann fehlte nur eine Stimme", sagt del Valle, "dann wäre er Mitglied geworden." Seit 25 Jahren arbeitet sie in der Suppenküche, in der jeden Tag fünfzig Kinder essen. Sie bekommt kein Geld, nur etwas zu essen für die Familie. Hätte ihr Mann damals die Stimme erhalten, ihr Leben wäre anders verlaufen: "Hier gibt es immer nur Arbeit während der Zuckerrohr- und der Erdbeerernte", sagt del Valle. Wenn die Ernte vorbei ist, muss ihr Mann das Dorf für mehrere Monate verlassen und Arbeit suchen. Meist zieht er dann in den Süden – zur Apfelernte. Trotzdem ist del Valle der Kooperative dankbar: "Wir haben ein Grundstück bekommen und Lehmziegel, daraus konnten wir ein Haus bauen, mit vier Zimmern. In einem anderen Dorf in Argentinien kann man davon als Erntehelfer nicht mal träumen."

Auch der Logistikfachmann Héctor Reinoso, seine Frau Jenny und der kleine Jonathan pro-fitieren von der Kooperative, obwohl Reinoso noch nicht Mitglied ist: Sie sind gerade in ein Häuschen eingezogen, heute werden sie die erste Nacht im neuen Heim schlafen. Die Kooperative hat Land zur Verfügung gestellt, damit Doppelhäuser für die Kinder der Mitglieder gebaut werden konnten. Trotzdem sieht Reinoso unglücklich aus: "Ich weiß nicht, wie lange wir das noch durchhalten." Damit meint er die räumliche Trennung. Solange sein Vater in der Kooperative ist, kann er nicht aufgenommen werden. So muss er in Buenos Aires arbeiten, 15 Busstunden entfernt: "Ich habe zwei Wochen Jahresurlaub und sehe meinen Sohn nicht aufwachsen."

Jenny und der kleine Jonathan hatten ihn anfangs nach Buenos Aires begleitet, aber das Kind war dort unglücklich. "Er konnte nicht auf der Straße spielen, die Fenster waren vergittert, damit niemand einbrechen kann", sagt Jenny, "hier können die Kinder im Fluss schwimmen lernen." Reinoso legt die Hand auf ihre Schulter: "Wenn es irgendwie geht, werde ich bald wieder in Campo de Herrera wohnen."