Zu oft das Auto genommen, zu selten das Rad. Zu kurz bei McFit gewesen, zu lang bei McDonald’s. Zu sehr verhätschelt worden, zu häufig verkloppt. Fragt man zehn Leute, warum ein Mensch dick ist und nicht dünn, bekommt man zwölf verschiedene Antworten – mindestens. Das Fesselnde an der Sache: Ein bisschen was dran ist an allen.

Wie groß ist eigentlich der Einfluss unserer Gene?

Während nun manche Erkenntnisse als unumstößlich gelten und die meisten Menschen auch schon selbst beobachten durften, dass zwei Wochen Weihnachten nicht spurlos an den Hüften vorübergehen, wird eine andere Frage immer lauter: Wie groß ist eigentlich der Einfluss unserer Gene? Können wir vielleicht weniger für unser Körpergewicht, als es immer heißt? Und wird die Menschheit womöglich deshalb immer dicker, weil irgendwas mit unseren Genen nicht stimmt?

„Wenn zum Beispiel der eine Zwilling in den USA lebt und der andere in Deutschland, sind sich die beiden vom Gewicht her ähnlicher als den Familien, in denen sie leben“

Nie zuvor gab es auf der Erde so viele Übergewichtige. In Deutschland fällt bereits jeder zweite Erwachsene in diese Kategorie. Jeder vierte Deutsche über 15 Jahren galt im Jahr 2013 sogar als fettleibig. Um die Jahrtausendwende war es noch jeder fünfte gewesen.

An der Universitätsklinik Charité in Berlin erforscht der Kinderarzt und Wissenschaftler Peter Kühnen den Zusammenhang zwischen Genen und Gewicht. Gleich zu Beginn des Gesprächs stellt er klar: „Die Frage ist ungelöst.“ Ein paar Dinge habe man aber verstanden, und dafür bedanken dürfe man sich – wie so oft – bei den Zwillingsforschern: Eineiige Zwillinge seien nämlich meist nicht nur auf den Zentimeter gleich groß, sondern hätten auch ein sehr ähnliches Körpergewicht. Und zwar unabhängig davon, ob sie zusammen aufwachsen oder nicht. „Wenn zum Beispiel der eine Zwilling in den USA lebt und der andere in Deutschland, sind sich die beiden vom Gewicht her ähnlicher als den Familien, in denen sie leben“, sagt Kühnen.

 

Eine Leptin-Spritze macht Mäuse, aber nicht Menschen schlank

1994 machten amerikanische Forscher eine entscheidende Entdeckung an sehr, sehr dicken Mäusen. Man vermutete zwar seit Jahren, dass die armen Tiere aufgrund eines genetischen Defekts derart fettleibig waren. Aber erst dem Team um den New Yorker Mediziner Jeffrey Friedman gelang es, nachzuweisen, dass es ein Gen gibt, das die Produktion eines Hormons steuert, welches Mäuse vor Fettleibigkeit schützt. Dieses Hormon tauften sie Leptin (nach Griechisch: leptos = dünn). Spritzte man den Mäusen Leptin, wurden sie ganz schlank. Die anfängliche Euphorie, man könne mit dem Hormon alle fettleibigen Menschen behandeln, wurde zwar gedämpft (es funktionierte nicht).

Etwas sehr Wichtiges hat man durch das Experiment jedoch verstanden: Im Kopf sitzt ein Sättigungszentrum. Dieses ist essenziell für das Körpergewicht, weil es uns auf dem Laufenden hält: „Hallo, ich habe Hunger! Bitte Nahrung!“ oder „Danke, das waren genug Fischstäbchen!“

Viele Forscher gehen davon aus, dass unser Körper quasi mitzählt, wie viele Kalorien er haben will und wie viele er bekommt. Und es scheint, als zähle er sehr streng: „Unser Körper weiß ganz genau, welches individuelle Gewicht er anstrebt“, sagt Peter Kühnen. In der Wissenschaft nennt man diese Annahme „Set-Point-Theorie“. Sie würde unter anderem erklären, warum nach Diäten der berüchtigte Jo-Jo-Effekt einsetzt, warum unser Gewicht relativ stabil ist, obwohl wir nicht jeden Tag gleich viel essen, und auch, warum die einen etwas fülliger sind als die anderen.

Es gibt eine genetische Mutation, die dazu führt, dass Betroffene immer Hunger haben 

Bei manchen Menschen ist das Sättigungszentrum regelrecht gestört. Wenn zum Beispiel ein zuständiges Hormon fehlt oder eine Genmutation vorliegt, haben die Betroffenen immer Hunger. Egal, wie viel sie auch essen – sie werden niemals satt. An der Charité wurden im Juli erstmals zwei Patientinnen mit POMC-Mangel (ein Vorläufer des Botenstoffes MSH, der das Sättigungszentrum des Gehirns gezielt aktivieren kann) erfolgreich mit einem Medikament behandelt, das die Wirkung des Hormons ersetzen soll. Mühelos nahm die eine Patientin innerhalb von 12 Wochen 20,5 Kilogramm ab, die andere in 42 Wochen 51 Kilo.

Sosehr die Forscher der Erfolg auch freut, das Problem der Fettleibigkeit wird er nicht lösen. „Eine Mutation im Sättigungszentrum ist extrem selten“, sagt Peter Kühnen. Ob man auch „normalen“ Fettleibigen mit einer solchen Therapie helfen kann, wird man wohl erst in ferner Zukunft wissen. Entsprechende Studien kosten nicht nur viel, sie sind auch schwierig zu erstellen. „Dass immer mehr Menschen und vor allem auch schon Kinder übergewichtig sind, kann man durch Genmutationen jedenfalls nicht erklären“, so Kühnen. „Genetisch gesehen“, sagt der Wissenschaftler, „liegen wir in unserer Evolution noch viele Jahre zurück.“ Man könne sich das so vorstellen, als wären wir noch auf Zeiten der Nahrungsknappheit eingestellt: „Wenn nur ein Mal im Monat ein Mammut vorbeikommt, dann ist es gut, wenn man Energie speichert, anstatt sie schnell zu verwerten.“

Ein Überlebensvorteil, der in vielen Ländern mittlerweile überflüssig ist – irgendein Supermarkt hat ja immer offen. Das Problem ist, vereinfacht gesagt: Die Gene vieler Menschen wissen das noch nicht. „Das führt dazu, dass wir unterschiedlich eingestellt sind, wie wir mit Nahrung umgehen“, sagt Kühnen. Also ob wir zum Beispiel besonders auf Süßes stehen und ob ein Stück Kuchen sofort in Hüftgold umgewandelt wird oder nicht.

Vieles über die genetischen Ursachen von Übergewicht ist noch unbekannt  

„Insgesamt erklären unsere bisher gefundenen Genvarianten aber nur 30 Prozent der Variabilität des Körpergewichtes“, sagt Kühnen. Und was ist mit dem Rest? „Zwischen diesen 30 und den genannten 70 Prozent liegt die ‚Missing Heritability‘“, so der Forscher, „neudeutsch für ‚Erklärungslücke in der Vererbung‘.“

Momentan arbeiten zig Wissenschaftler daran, diese Lücke mit Experimenten unter Laborbedingungen zu schließen. Einer von ihnen ist Johannes Beckers. Am Institut für Experimentelle Genetik des Helmholtz-Zentrums in München forscht er mit Mäusen, die durch Fehlernährung fett werden und eine Diabetes entwickeln. Der Nachwuchs dieser Mäuse wird bei Fehlernährung noch schneller dick und erkrankt noch stärker an Diabetes. Der Trick bei den Experimenten von Beckers: Die Mäusekinder werden im Reagenzglas gezeugt und von gesunden Leihmüttern ausgetragen. Das heißt, dass die Neigung der Kinder, noch dicker zu werden als ihre Eltern, über die Keimzellen – also Ei und Spermium – vererbt wird.

Faktoren wie das Verhalten der Eltern oder Einflüsse der Mutter während der Schwangerschaft können die Forscher so ausschließen. „Dass Eltern die Folgen ihrer Ernährungsweise epigenetisch an ihre Kinder weitergeben, könnte ein Grund dafür sein, warum Übergewicht und Diabetes in den letzten Jahrzehnten so stark zunehmen“, sagt Beckers.

Es sind viele Puzzleteile, die dick machen

Ein einzelner, konkreter Grund, warum jemand übergewichtig ist, lässt sich laut Susanna Wiegand fast nie benennen. Die Berliner Ärztin leitet die Adipositas-Ambulanz des Sozialpädiatrischen Zentrums an der Charité. Dort versucht man, auf alle äußeren Faktoren zu achten, die mit der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu tun haben. „Man kann nie genau sagen, zu wie viel Prozent das Übergewicht eines einzelnen Menschen jetzt an seinen Genen liegt, an dem Beruf seiner Eltern, Stress in der Schule oder einem Migrationshintergrund“, sagt Wiegand.

Es sind viele Puzzleteile, die dick machen. Tanja Behrmann weiß mittlerweile, welche es bei ihr sind. „Schuld“ will sie dafür niemandem geben, auch nicht einer möglichen genetischen Veranlagung, die ein Blick auf ihren Stammbaum suggerieren könnte. „Für solche ‚Ausreden‘ wird man von der Gesellschaft nur schief angeschaut“, lacht die 27-Jährige, und schnell wird klar: Das passiert auch so schon oft genug.

In ihren dicksten Zeiten wog Behrmann 135 Kilo, in ihren dünnsten 86. Heute liegt ihr Gewicht irgendwo dazwischen. „Als ich drei war, kam meine kleine Schwester zur Welt. Weil sie sehr krank war, musste sie alle zwei Stunden essen“, sagt Behrmann, „und dann aß ich halt mit.“ Die Berlinerin war ein molliges, aber glückliches Kind.

In der Grundschule fing dann aber das Mobbing an, und Essen wurde zum Trost. Dann kam die Unterstufe und die Jungs, die sich immer nur für die schlanken Freundinnen interessierten. Essen wurde zum Freund. Behrmann entwickelte früh eine Esssucht, wurde körperlich krank, verlor ihren Job. „Weight Watchers, Low Carb, FdH, Fasten, Kuraufenthalte“, sagt sie, „ich hab eigentlich schon alles durch.“

Erst durch eine Psychotherapie hat Behrmann gelernt, sich vor sich selbst zu „outen“: „Ich habe mir nicht eingestanden, dass ich ein Problem mit dem Essen habe“, sagt sie. Durch eine Selbsthilfegruppe hat sie gelernt, davon zu erzählen. Und durch Freunde, Jazzdance und Hip-Hop, dass im Leben auch noch andere Sachen zählen als ein möglichst niedriger Body- Mass-Index.

Stichwort Nutrigenetik:

Dass der eine nach zwei Bier vom Barhocker kippt, während der andere auch nach zwölf noch sitzt, kann viele Gründe haben. Körpergewicht, Tagesverfassung, langjähriges Training – alles schon gehört. Seit Kurzem gehen Wissenschaftler davon aus, dass auch unsere Gene beeinflussen, wer wie viel verträgt. Und zwar nicht nur was Alkohol betrifft, sondern auch Kaffee, Salz oder Fett. Glaubt man aktuellen Studien, dann gehen unsere Körper mit Nahrung höchst unterschiedlich um: Während für den einen eine Tüte Pommes täglich kein Problem darstellt, kann sie für den anderen sozusagen der direkte Weg zum Herzinfarkt sein. Genmutationen, die sich über Jahrhunderte entwickelt haben, können auch erklären, warum viele Mitteleuropäer Kuhmilch trinken können, ohne Blähungen zu bekommen – und viele Südostasiaten nicht. Dieses neue Forschungsgebiet zwischen Veranlagung und Nahrungsverwertung trägt den Namen Nutrigenetik. Die Hoffnungen, die darauf liegen, sind groß: Wertet man alle relevanten Gen-Variationen eines Menschen aus, wäre es möglich, einen individuellen Ernährungsplan zu erstellen. Einen, der abseits pauschaler Weisheiten tatsächlich Schlaganfällen vorbeugt, Bluthochdruck verhindert oder einfach die paar Kilo zu viel. Einige Firmen bieten solche Auswertungen bereits an – besonders seriös sind sie aber nicht. Solange man nämlich nicht das gesamte Genom eines Menschen sequenziert, haben die Ergebnisse kaum Aussagekraft. Findet man etwa an einer Stelle Varianten, die eine Art Fettfreifahrtschein bedeuten, liegen womöglich an 20 anderen Orten Varianten, die für das genaue Gegenteil sprechen. Eine voreilige Ernährungsempfehlung wäre in so einem Fall, nun ja, ziemlich heavy.

Titelbild: Alessandra Sanguinetti/Magnum Photos/Agentur Focus