500 Meter liegen zwischen Blagoweschtschensk in Sibirien und Heihe in China. Noch im vergangenen Sommer drängten sie sich täglich über den Grenzübergang am Amur-Fluss: russische Hausfrauen auf dem Weg in chinesische Shopping-Malls, Händler, die Taschen voller Jeans und gefälschten Sneaker nach Sibirien schleppten. Bis der Ölpreis einbrach und der Rubel ins Bodenlose stürzte. Seither können sich viele Russen selbst die Billigwaren „Made in China“ nicht mehr leisten.

Blagoweschtschensk bedeutet „die Stadt der guten Nachrichten“. Für die Bewohner in dem sibirischen Grenzort gab es in den vergangenen Jahren jedoch vor allem schlechte. Die Wirtschaft liegt brach, Wohnblöcke verwahrlosen, die Menschen ziehen fort. Ein ganz anderes Bild auf der gegenüberliegenden Seite des Amurs: vielstöckige Hochhäuser, Neonreklamen, frisch geteerte Autobahnen. In der chinesischen Handelsstadt Heihe können sich Geschäftsleute über den niedrigen Rubelkurs freuen: Importe aus Russland kosten jetzt nur noch die Hälfte.

Früher markierte der Amur fast eine Art Todesstreifen zwischen der Sowjetunion und ihrem feindlichen Bruderstaat im Süden. Nachdem sich die einstigen Verbündeten Chruschtschow und Mao in den 60er-Jahren im Kampf um den Führungsanspruch in der kommunistischen Bewegung überworfen hatten, installierten sowjetische Truppen entlang der 3.645 Kilometer langen Grenze elektrisch geladenen Stacheldraht, Bewegungsmelder, Beobachtungstürme und Betonbunker. Immer wieder drohte Krieg. Erst ein Staatsbesuch von Gorbatschow in Peking 1989 sorgte für Entspannung. Die Grenze wurde wieder geöffnet, und beide Riesen näherten sich an.

Die russische Planwirtschaft kollabiert, in China bricht der Boom aus

Anfang der 90er-Jahre blickten die Russen noch mit Mitleid über den Amur, brachten den Chinesen Teller, Besteck und Fleischkonserven, die ihrerseits in den reicheren Norden zogen, um dort als Schwarzarbeiter anzuheuern. Dann kollabierte in der alten Supermacht die Planwirtschaft. Und in China brach der Boom aus. Heute prägt die neue Supermacht mit Milliardeninvestitionen die Grenzregion: China baute einen neuen Flughafen, eine neue Stadt und Urlaubsresorts, bald sogar eine 150 Milliarden Dollar teure Hochgeschwindigkeitsstrecke von Peking nach Moskau.

In den sibirischen Grenzstädten dominieren chinesische Unternehmer das Immobiliengeschäft und die Warenmärkte, in Blagoweschtschensk haben sie eine Traditionsbrauerei aufgekauft und betreiben das teuerste Hotel vor Ort. „China investiert mehr im russischen Fernen Osten als die eigene Regierung“, klagte eine Moskauer Zeitung. Die Sorge ist groß, dass sich Russland in eine Art Rohstofflager für den erstarkten Nachbarn verwandelt: Zwei Drittel aller Holzimporte Chinas werden aus russischen Wäldern herangekarrt, erst kürzlich stimmte der russische Gaskonzern Gazprom einem 30-Jahres-Deal mit Peking zu.

In den Nordprovinzen Chinas leben 140 Millionen Menschen, ihnen stehen am anderen Ufer des Amurs sechs Millionen Russen im dünn besiedelten „Fernen Osten“ gegenüber. Um den Bevölkerungsschwund zu bekämpfen, wirbt die russische Regierung seit Jahren gezielt um Zuzügler aus Kasachstan, Armenien und anderen Teilen der ehemaligen Sowjetunion.

Blagoweschtschensk und Heihe werben zwar mit dem Slogan „Zwei Länder – eine Stadt“, doch die Beziehungen bleiben angespannt. Manche Bewohner auf der russischen Seite schauen mit Neid und Skepsis nach China. Um an die einstige Überlegenheit zu erinnern, ließ der Kreml am Amurufer den alten Triumphbogen aus der Zeit des Zaren wieder aufbauen. Einige Kilometer weiter steht ein in Bronze gegossener sowjetischer Grenzsoldat. Wie der Wächter eines untergegangenen Reiches.