Herr Berger, wie sehr bestimmt in Deutschland die soziale Herkunft die Aussichten auf Bildung, Ausbildung, Arbeitsplatz und Karriere? 

In einem erstaunlich hohen Maße,vor allem im internationalen Vergleich.Laut PISA-Studie hat ein 15-jähriges Oberschichtenkind in Deutschland eine rund viermal größere Chance, das Gymnasium zu besuchen und das Abitur zu machen, als ein Facharbeiterkind. Dies aber bei gleicher Intelligenz und Lernbereitschaft. Schlechter schneiden nur noch Ungarn und Belgien ab. 

Wie kommt es zu diesem Zustand? 

Das hat sehr viel mit der Dreigliedrigkeit des deutschen Schulsystems zu tun, also Hauptschule, Realschule und Gymnasium, das als Status-konservierendes System angelegt ist. Es ist kein Zufall,dass wir unsere Gesellschaft in drei Gruppen teilen,in Ober-,Mittel- und Unterschicht,und diese Aufteilung im Schulsystem wiederfinden.Das frühe Sortieren im deutschen Bildungssystem ist ein großes Problem und eine der Ursachen für die festgestellten Chancenungleichheiten. 

Wieso eigentlich? Es gilt doch für alle! 

Schon, aber wir wissen durch Studien, dass Eltern mit Schullaufbahnempfehlungen völlig unterschiedlich umgehen. Eltern aus der Arbeiterschicht akzeptieren viel eher,dass ihr Kind nicht aufs Gymnasium soll. Eltern aus oberen Bildungsschichten ignorieren oft den Ratschlag der Lehrer und tun alles in ihrer Macht Stehende,um ihr Kind eben doch aufs Gymnasium zu schicken. 

Sind wir auf dem Weg zurück in eine Gesellschaft, in der die Geburt über die Stellung in der Gesellschaft entscheidet? 

Es hat sich ja einiges geändert im Vergleich zu den Fünfziger- oder Sechzigerjahren, als die Bildungsexpansion zum ersten Mal richtig diskutiert wurde und man begann, das System für alle zu öffnen. Im Zusammenhang mit der Forderung nach einem "Bürgerrecht auf Bildung" wurde damals gerne die Figur der katholischen Arbeitertochter vom Lande zitiert,die gleiche Chancen auf Bildung haben müsse. In dieser Figur bündelten sich viele Faktoren der Benachteiligung im Bildungssystem. Heute spielt Religion kaum noch eine Rolle ebenso wie das Geschlecht und die Unterscheidung zwischen Stadt und Land. Aber die soziale Herkunft eben schon.

Warum ist das so? 

Einerseits leben wir in einer Leistungsgesellschaft, andererseits gibt es nach wie vor Mechanismen, durch die überkommene soziale Ungleichheit konserviert wird. Aber dieses Spannungsverhältnis findet man in allen modernen Gesellschaften. 

Welche Mechanismen meinen Sie? 

Vor allem die Vererbung im weitesten Sinne des Wortes,also die Weitergabe von Kapitalvermögen und Eigentum, aber auch von erworbenem kulturellem Kapital, Fähigkeiten und Fertigkeiten.In der Regel passiert das in Familien und führt zu einem Startvorteil für Kinder aus privilegierten Schichten.Das kann das schiere Vorhandensein von Büchern sein, aber auch die Wertschätzung von Bildung oder die Bereitschaft zu diskutieren. Andersherum: Wenn die Förderung im Elternhaus geringer ist, sind zum Beispiel die Sprachkompetenzen schlechter ausgebildet. 

Die Benachteiligten werden benachteiligt und die Bevorzugten bevorzugt? 

So könnte man das formulieren; es handelt sich um selbstverstärkende Mechanismen.Das Prinzip der Ungleichheit folgt leider oft dem Bild, das man als Matthäus-Prinzip aus der Bibel kennt:Wer hat, dem wird gegeben, auf dass er in Fülle habe. Die sozial starken Schichten können mehr Wissen und Kompetenzen an ihre Kinder weitergeben und deren sozialen Status somit zumindest sichern, wenn nicht verbessern. 

Laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung fühlen sich immer mehr Deutsche sozial abgehängt,im Moment rund acht Prozent. Funktioniert eine Gesellschaft noch, in der eine Gruppe keine Chance mehr sieht, durch Bildung und Leistung aufzusteigen? 

Wenn sich die Erfahrungen häufen, dass der Aufstieg aufgrund von Leistung und Bildung nicht gelingt,obwohl das versprochen wurde, wird das Leistungsprinzip natürlich zunehmend in Frage gestellt werden.Das kann man nun tatsächlich bei manchen Gruppen von Jugendlichen feststellen: den Glauben, dass man sowieso keine Chance hat in diesem Land. Das ist dramatisch.Das kann man auch nicht wegleugnen. Ob sie tatsächlich abgehängt sind, können diese jungen Menschen natürlich nicht wirklich beurteilen,die haben das ja erst vor sich. Aber wenn die soziale Mobilität fehlt, ist das ein schwerwiegendes gesellschaftliches Problem. 

Wie kann man verhindern, dass sich eine Schicht der Frustrierten bildet? 

Sofern diese Schicht tatsächlich aus jüngeren Leuten besteht:ihnen Chancen und Möglichkeiten geben,im Sinne durchdachter Qualifizierungsmaßnahmen. Das muss damit verbunden sein,dass Arbeitsplätze geschaffen und Betriebe angesiedelt werden,gerade im Osten. Sonst hat es keinen Sinn. Arbeitslosengeld ist wichtig,als Grundsicherung.Aber es muss eine Perspektive vorhanden sein, um Resignation vorzubeugen und Motivation und Engagement zu forcieren. 

Wie könnte man wieder größere Chanchengleichheit schaffen? 

Erstens muss nach wie vor möglichst viel und breit in die Bildung investiert werden, in allen Bereichen.Da hat Deutschland im internationalen Vergleich noch Nachholbedarf. Zweitens müssen Strukturen geändert werden. Man sollte sehr ernsthaft über die Einführung von Gesamtschulen nachdenken, längeres gemeinsames Lernen und spätere Selektion wären anzustreben. 

Auch stärkere vorschulische Förderung? 

Das wäre zweifellos genauso sinnvoll. In diesem Zusammenhang sollte man fragen: Ist es nicht merkwürdig, dass wir in der vorschulischen Erziehung, bei Kindergärten und in der Betreuung, den Eltern Geld abverlangen, während an den Universitäten, wo sich meist die Privilegierten aufhalten, Bildung noch immer zum Teil kostenlos zur Verfügung steht? Vielleicht wäre das andersrum besser. 

Müssen wir uns von dem Gedanken verabschieden,irgendwann echte Chancengleichheit zu erreichen? 

Gleiche Lebensbedingungen für alle sind vielleicht eine Illusion.Wir müssen aber versuchen,uns der Chancengleichheit oder,besser noch,der Chancengerechtigkeit graduell anzunähern. Und wir können mehr erreichen, da bin ich mir ganz sicher. 

Peter A. Berger, 51, ist Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Rostock. Zu seinen Arbeits- und Forschungsschwerpunkten zählt die "soziale Ungleichheit". In der bpb-Reihe Aus Politik und Zeitgeschichte veröffentlichte er 2005: Deutsche Ungleichheiten –eine Skizze (Nr. 37/2005).