Sarah ist erst 28 Jahre alt. Aber wenn sie von ihrem Leben erzählt, dann wirkt die rundliche kleine Frau mit dem schwarzen Haar und den grünen Augen sehr alt. Fast so, als wäre ihr Leben vorbei. Aus Warna stammt Sarah, die in Wirklichkeit anders heißt. Das ist eine bulgarische Hafenstadt am Schwarzen Meer. Heute lebt sie in Essen. Sechs Jahre schon.

„Früher war ich einmal sehr hübsch“, sagt Sarah. „Und schlank. Nicht so wie jetzt.“ Es klingt, als erzähle sie von einem anderen Menschen. 18 Jahre war Sarah alt, als sie sich zum ersten Mal verliebte. In Warna war das. Sie zog bei ihm ein. Aber seine Mutter war gegen die Verbindung – und warf sie raus. Plötzlich standen die beiden auf der Straße – ohne Geld. Sarah fing an, das zu tun, was sie „diesen Beruf“ nennt. Sie begann, sich zu prostituieren.

„Es war seine Idee“, sagt sie und zuckt mit den Schultern, so als wolle sie sagen „nichts Besonderes“. Ein Job wie jeder andere. „In Bulgarien machen viele Mädchen diesen Beruf.“ 50 Euro gab es damals. In Bulgarien im Jahr 2005 muss das viel Geld gewesen sein. Hier in Essen bekommt sie 20, höchstens 30 Euro dafür. „Der Beruf ist total kaputt“, sagt Sarah.

Als sie zum ersten Mal abhaut, ist sie 20 Jahre alt: Schwanger sei sie gewesen, sagt sie. Von ihm. Doch er habe sie verprügelt und zum Arbeiten geschickt, sodass sie am Ende sogar das Kind verlor. In einer Diskothek in Warna treffen sie sich wieder. Ein Jahr ist vergangen. Er hat geheiratet. Ein Kind bekommen. Trotzdem fragte er sie, ob sie mit ihm nach Deutschland gehen will. Um Geld zu verdienen. Das ganz große Geld. Sarah willigt ein.

Warum sie mit ihm gegangen ist? Sie lächelt. Zieht den Mund ganz breit. „Liebe“, sagt sie dann, als würde das alles erklären, alles vergessen machen, was er ihr angetan hat. Sie gehen nach Berlin. Sie steht an der Straße, acht bis zwölf Stunden täglich. Er arbeitet nicht, gibt aus, was sie verdient, schickt einen Teil sogar nach Bulgarien, zu Frau und Kind. Warum? „Wir haben uns geliebt, er hat sich um mich gekümmert.“

Jetzt verdient sie ihr eigenes Geld, ohne Zuhälter. Ein paar Monate später lernt sie wieder jemanden kennen, der ihr hilft. Ein deutscher Freier. „Ich hatte keine Wohnung“, erinnert sie sich, „stand mit all meinen Sachen auf der Straße.“ Auch er quartiert sie bei sich ein, ohne Gegenleistung. Dafür geht er mit ihr zum Jobcenter. Sarah ist 24 Jahre alt, als sie zum ersten Mal aufhört, sich zu prostituieren. Die Flucht aus ihrem alten Leben: Beinahe scheint sie zu gelingen. Sie bekommt Hartz IV und eine Wohnung vom Amt, hilft in der Küche einer Kantine aus, beginnt einen Deutschkurs. Alles sieht gut aus. Doch dann wird ihr alles zu viel. „Ich hatte keine Lust“, sagt Sarah und zieht die schmal gezupften Augenbrauen zusammen, bis ihre Stirn eine senkrechte Falte wirft. Eine andere Erklärung gibt es nicht.Irgendwann wurde er anders, hart und jähzornig und begann sie wieder zu schlagen. Dann müssen sie wieder fliehen. Diesmal nach Essen. „Er hatte Probleme mit anderen Leuten“, sagt Sarah. Wieder geht sie arbeiten, diesmal steht sie am Kirmesplatz. Als sie zwei Jahre später beschließt zu gehen, hat sie Schmerzen. Der Mann, der einmal ihre große Liebe war, hat sie ihr zugefügt. Ein paar Rippen sind gebrochen. Sie hatte in der Nacht zuvor nicht genügend Geld nach Hause gebracht. Er will nach Bulgarien, und sie ergreift ihre Chance, packt ihre Sachen. Ein „guter Bekannter“ nimmt sie mit zu sich. Er kennt das Milieu, hat einflussreiche Freunde. Dort ist sie sicher. Und dieses Mal muss sie nichts abliefern. Aber sie schläft mit ihm. Verliebt? „Nein“, sagt Sarah und lacht, „aber er war ein hübscher Mann.“ Sechs Monate hält die Beziehung, dann trennen sie sich. „Wie Freunde.“

Keine Lust, morgens aufzustehen, um in den Kurs zu gehen. Keine Lust, in der Kantine zu arbeiten. Dann wird sie krank. Gallensteine. Vier Jahre ist es her. Den Deutschkurs hat sie nie zu Ende gemacht. Dafür steht sie wieder auf der Straße. Nicht oft. Ein, zwei Mal im Monat vielleicht. Weil das Geld vom Amt nicht reicht. Ihr altes Leben, es holt sie immer wieder ein.

Foto: Maria Sturm