Liebesbriefe schreibt man, wenn man verliebt ist. Klassenarbeiten schreibt man, wenn der Lehrer das will. Ein Tagebuch schreibt man, um festzuhalten, was man erlebt hat. Eine SMS schreibt man, wenn man schnell etwas mitzuteilen hat. Und ein Gedicht schreibt man, wenn einem der Schulfreund sein Poesiealbum mitgibt. Aber wer schreibt wann und warum eine Verfassung? Eine Verfassung ist etwas ganz Besonderes: Sie ist Liebesbrief, Klassenarbeit, Tagebuch, SMS und Poesiealbum in einem. Verfassungen sind so verschieden wie Liebesbriefe. Es gibt Verfassungen, die sind geschrieben im Rausch, im Hochgefühl, da hört man die Glocken läuten. So eine Verfassung war die erste deutsche Verfassung, die von deutschen Demokraten 1848 gegen die Könige, die Fürsten und ihre Soldaten auf den Barrikaden in den deutschen Städten erkämpft und dann 1849 im Namen des Volkes von der deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche beschlossen wurde. Es gibt aber auch Verfassungen, die sind geschrieben in einer Mischung aus Hoffnung und Verzweiflung, so wie ein Liebeskummerbrief. So eine Verfassung ist das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahr 1949, geschrieben, als Deutschland in Trümmern lag.

Man sieht es diesem Grundgesetz nicht mehr an: Es ist vor über sechzig Jahren im Dreck entstanden, in Schutt und Elend. Die Deutschen, für die es gemacht wurde, interessierten sich damals, 1948/49, kaum dafür, sie hatten anderes zu tun. Sie räumten die Trümmer weg, die der Nationalsozialismus in ihnen und um sie herum hinterlassen hatte. Sie hatten Hunger und die Furcht, das Überleben nicht zu schaffen. Sie hatten, wie Erich Kästner trotzig schrieb, „den Kopf noch fest auf dem Hals“, aber sie hatten genug von Politik. Demokratie war ihnen suspekt. Demokratie galt als Import der Siegermächte, und die zu schreibende Verfassung verstand man als eine von Briten, Franzosen und Amerikanern auferlegte sinnlose Strafarbeit.

Die Verfassungsarbeiter sahen das anders. Für sie war das Werk ein Scheck für eine bessere Zukunft; aber auch sie hatten, wie alle, Angst vor der Zementierung der deutschen Teilung und, vor allem, vor einem neuen Krieg. Die Sowjets hatten Berlin abgeriegelt, die Blockade sollte fast ein Jahr dauern. Unter miserableren Voraussetzungen ist kaum eine Verfassung geschrieben worden. Die dreißig Fachleute, die vor 63 Jahren aus den zerbombten Städten der Westzonen zum Verfassungskonvent in die Idylle der Insel Herrenchiemsee kamen, um ein Grundgesetz vorzubereiten, haben sich an den Martin Luther zugesprochenen Satz gehalten: Sie haben befürchtet, dass die Welt untergeht – und trotzdem das Bäumchen gepflanzt.

Hunderttausende „displaced persons“ zogen damals durch die Städte, fast eineinhalb Millionen Flüchtlinge lagerten allein im kleinen Schleswig-Holstein; aber über ein Grundrecht auf Asyl wurde nicht lang debattiert, es war selbstverständlich angesichts der bitteren Erfahrungen, die man selbst mit Verfolgung und Abweisung erfahren hatte. Die Mordrate war in den unsicheren Nachkriegsjahren auf bis dahin ungekannte Höhen gestiegen, die Abschaffung der Todesstrafe wurde trotzdem ins Grundgesetz geschrieben. Die neue Kriegsgefahr, die Ge- fahr von Spionageakten und von Anschlägen war mit Händen zu greifen, doch über das Verbot der Folter wurde keine Sekunde gestritten; man wusste, was passiert, wenn Demütigung zum Instrument staatlichen Handelns wird. Es saßen viele zuvor politisch Verfolgte in den Gremien, die das Grundgesetz vorbereiteten. Nie mehr später in einem deutschen Parlament war ihr Anteil so hoch.

Die Pflanzaktion von 1949 war die erfolgreichste Pflanzaktion der deutschen Geschichte. Sorgsam wurden die Wurzeln gebettet: Glaubensfreiheit, Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Parteigründungsfreiheit, Berufsfreiheit – Freiheit war das Zauberwort nach den Jahren der Unfreiheit, die Freiheiten waren Garantie und Verheißung. Manche meinen, eine Verfassung sei auch nur „irgendein Gesetz“, wie es in jedem Land Tausende gibt – Arbeitsgesetze, Schulgesetze, Strafgesetze oder etwa die Gesetze, die regeln, wann man den Führerschein machen oder wann man heiraten darf. Doch die Verfassung ist nicht irgendein Gesetz, wie es jede Woche im Bundestag gemacht wird und wieder geändert werden kann. In einer Verfassung steht nicht nur drin, dass die deutsche Fahne schwarz-rot-gold ist. Die Verfassung ist etwas ganz Tiefschürfendes: Sie ist die Grundlage für alle anderen Gesetze. Der Name der deutschen Verfassung sagt das deutlich: Grundgesetz.

Deswegen kann das Grundgesetz auch nicht so einfach geändert werden wie die anderen anderen Gesetze, es reicht nicht, wie sonst, die einfache Mehrheit der Stimmen. Das Grundgesetz kann nur dann geändert werden, wenn zwei Drittel der Mitglieder des Bundestags und zwei Drittel der Mitglieder des Bundesrats zustimmen. Und es gibt sogar Vorschriften im Grundgesetz, die niemals geändert werden dürfen: der Artikel 1 über den Schutz der Menschenwürde und der Artikel 20, in dem steht: „Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ An diesen Kernsätzen darf, so steht es ausdrücklich im Grundgesetz, nicht gerüttelt werden, sie sollen ewig gelten – und diese Ewigkeit soll länger dauern als die ewige Liebe, die sich Liebespaare schwören, die aber dann doch oft nur ein paar Monate oder ein paar Jahre hält.

Als das Grundgesetz geschrieben wurde, war der Zweite Weltkrieg erst ein paar Jahre vorbei, und den meisten Deutschen war bewusst geworden, welchem Verbrecher sie nachgelaufen waren und welche furchtbaren Verbrechen Hitler und die Nazis begangen hatten. Das Grundgesetz macht sich daher, wie ein Tagebuch beinah, Gedanken über die zurückliegenden Jahre der Verachtung und Verfolgung von Millionen von Menschen. Das Grundgesetz zieht seine Folgen daraus. Es gibt jedem Menschen die gleichen Rechte, und es hält die Grundfreiheiten ganz hoch: Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, die Freiheit, einigermaßen unbehelligt leben zu können. Und das Grundgesetz gibt den Gerichten, vor allem dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, die Aufgabe, darüber zu wachen, dass diese Regeln auch eingehalten werden. Es stellt Regeln auf, die verhindern sollen, dass Deutschland noch einmal auf die schiefe Bahn gerät.

In unsicherster Zeit wurden Grundrechte geschaffen. Später, im sichersten Deutschland, das es je gab, wurden sie revidiert: erst das Grundrecht auf Asyl, weil das „Boot“ angeblich voll war; dann das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung, weil man angeblich sonst der organisierten Kriminalität nicht Herr werden konnte; heute ist es der islamistische Terror, dessen Bekämpfung Grundrechte angeblich im Wege stehen. Die Kirschen der Freiheit werden nicht selten madig gemacht. Oft wird in der Tagespolitik so getan, als müsse man die Grundrechte kleiner machen, um mehr Sicherheit zu schaffen. Dann muss das Bundesverfassungsgericht der Politik klar machen, dass die Grundrechte ein Geschenk sind, nicht eine Gefahr.

Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten – heißt es oft in den sicherheitspolitischen Debatten. Manchmal stimmt das tatsächlich. Von einer einzelnen Videokamera geht sicherlich keine Gefahr aus, von ein bisschen Spucke, die einem unschuldigen Menschen genommen wird, auch nicht; eine Speichelprobe zur Aufklärung eines Verbrechens muss man ja nicht jeden Tag abgeben. Und die Videokamera, die den öffentlichen Raum überwacht, springt zwar nicht herunter, um zu helfen, wenn etwas passiert – aber sie kann immerhin für ein kleines Sicherheitsgefühl sorgen; und wenn mit den Bildern nicht Schindluder getrieben wird, kann die Kamera ganz sinnvoll sein. Wenn aber der Mensch fast überall mit staatlichen oder privaten Videokameras beobachtet wird, wenn diese zusammengeschaltet, und so Menschen gezielt erfasst und kontrolliert werden können, wenn mit Erfassungssystemen festgehalten wird, wo und wann sie welche Straßen benutzen, wenn die Daten ihrer Flüge registriert, ihre dortigen Essgewohnheiten festgehalten, ihre Computer elektronisch durchsucht werden, wenn ihre Telekommunikationsdaten gespeichert werden, wenn also gespeichert wird, wer wann und wo mit wem telefoniert oder wem er SMS geschickt hat, wenn die Bankkonten der Bürger vom Staat visitiert, wenn ihre Persönlichkeitsdaten, Krankheiten und Gebrechen zentral abrufbar werden, wenn gar überlegt wird, Speichel- oder Blutproben zur Entschlüsselung und Speicherung des genetischen Codes schon im Säuglingsalter abzunehmen – dann hat das mit dem Bild vom freien Bürger, das dem Grundgesetz zugrunde liegt, nicht mehr so viel zu tun.

Wenn die Rechte der Bürgerinnen und Bürger zu sehr eingeschränkt werden, dann ist das Grundgesetz ein Schild, um sich dagegen zu wehren. Das Bundesverfassungsgericht hilft jedem Einzelnen dabei, sich zu wehren. Das Grundgesetz ist also nicht nur Liebesbrief an ein Land, es ist nicht nur Tagebuch und Poesiealbum. Es ist auch ein Protestbrief, wenn Staat und Gesellschaft die Freiheit, die soziale Gerechtigkeit und den inneren und äußeren Frieden nicht mehr ganz hoch halten.

Prof. Dr. jur. Heribert Prantl ist Mitglied der Chefredaktion der „Süddeutschen Zeitung“ und leitet die Redaktion Innenpolitik