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Und morgen ein anderes Polen

In Polen sorgten vor allem Frauen dafür, dass die rechtskonservative Regierung abgewählt wurde. Wie haben sie das geschafft? Und wie geht es ihnen heute damit?

  • 7 Min.
Proteste, Polen

Auf Video ist die Szene nur verwackelt, in ihrem Kopf aber ganz klar. Anna Maziarska blockiert mit anderen den Verkehr auf einer Straße in Warschau. Sie protestieren gegen eine Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts, Abtreibungen nahezu vollständig zu kriminalisieren. Ein Mann fährt mit seinem Auto heran, steigt aus, reißt eine der Frauen hoch, wirft sie wieder zu Boden, reißt sie erneut hoch und zerrt sie in Richtung seines Wagens. Dann flieht er. So erzählt es Maziarska heute. Später stellte sich heraus: Der Mann war vermutlich der Fahrer eines hochrangigen Politikers von „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), der damaligen rechtsnationalen Regierungspartei von Polen. Das war im Oktober 2020.

„Und morgen wachen wir in einem anderen Polen auf“, schreibt Anna Maziarska fast genau drei Jahre später auf Facebook. Der 15. Oktober 2023 ist der Tag der Parlamentswahl. Dazu postet sie zwei Fotos, auf denen sie den Stimmzettel in die Urne in ihrem Wahllokal in Warschau einwirft. Maziarska ist 21 Jahre alt, Feministin und Aktivistin. Frauen wie sie, so heißt es später in den Wahlanalysen, haben die Wahl entschieden – gegen die PiS und für die liberale Opposition um Donald Tusk. Von einem sozialen Wandel im erzkonservativen Polen ist die Rede, vom Ziel eines jahrelangen Kampfes der polnischen Frauen

Das Symbol ihres Kampfes ist ein roter Blitz. Die Mitglieder des „Ogólnopolski Strajk Kobiet“, des Netzwerks „Streik aller polnischen Frauen“, malen ihn auf ihre Plakate, drucken ihn auf Fahnen und Masken oder zeichnen ihn sich ins Gesicht wie David Bowie. Die Bewegung entstand 2016, als die 2015 an die Macht gekommene PiS-Regierung einen Gesetzentwurf durchbringen wollte, der das Abtreibungsverbot noch weiter verschärft hätte. Fast 100.000 Menschen gingen dagegen auf die Straße, das Parlament ließ den Plan fallen.

Sechs Frauen starben, weil sie nicht abtreiben durften

Als 2020 Polens Verfassungsgericht urteilte, Schwangerschaftsabbrüche im Falle einer schweren Fehlbildung des Fötus zu verbieten und nur noch nach Vergewaltigung, Inzest oder bei Lebensgefahr für die Schwangere zuzulassen, folgten erneut Demonstrationen. Doch diesmal wurde aus dem Urteil ein Gesetz. Seither haben vor allem die Fälle von sechs Frauen für weitere Proteste gesorgt, denn sie sind mit einem kranken oder toten Fötus im Bauch an Blutvergiftung gestorben. Abtreibungen hätten ihre Leben retten können, doch die Ärzte weigerten sich oder warteten aus Angst vor einer Anzeige ab. Immer wieder trieben diese Todesfälle Tausende Frauen auf die Straße.

„Was mich antreibt, ist Wut“, sagt Anna Maziarska. Als der Protest im Oktober 2020 aufflammte, ging sie noch zur Schule. Tagsüber lernte sie Mathe und Englisch, abends blockierte sie Straßen, sagt sie. Sie trat einer Arbeitsgruppe des „Strajk Kobiet“ bei, die die sexuelle und zivilgesellschaftliche Bildung in Polen verbessern will. Zwischen ihren Abi-Klausuren eilte sie zu einer Pressekonferenz, um eine Untersuchung vorzustellen, die zeigt, wie wenig Schüler:innen über ihre Körper, Sex und ihre Rechte lernen. Mit 19 wurde sie als Mitglied für den Frauenrat, der die Stadtregierung von Warschau berät, ausgewählt.

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Proteste in Polen
Immer wieder gingen Frauen auf die Straßen, auch in Polens konservativen Kleinstädten

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Anna Maziarska
„Der Kampf um Frauenrechte ist ein Marathon", sagt die feministische Aktivistin Anna Maziarska

Erst Demonstrationen auf der Straße, dann feministische Lobbyarbeit: Wie Anna Maziarska selbst hat sich auch der Protest in Polen weiterentwickelt. „2016 und 2020 war der Protest geprägt von wütenden Emotionen“, sagt Magdalena Muszel, Soziologin an der Universität in Danzig. Ausdruck dafür seien Slogans wie „Tojestwojna“ („Dies ist Krieg!“) oder „Wypierdalać“ („Verpisst euch!“) gewesen. „Das trieb den Protest auf der Straße gut an, war aber nicht anschlussfähig genug, um die Breite der Gesellschaft für politische Ziele zu gewinnen.“

Was also haben die Frauen des „Strajk Kobiet“ verändert, um diese Breite zu erreichen? Ihre Sprache, sagt Magdalena Muszel – weniger Wut, mehr sachliche Aufklärung dazu, dass der Tod von Schwangeren verhindert werden könne und es weiterhin jährlich Abtreibungen gibt, nur eben unter unsicheren Umständen oder im Ausland. „So haben sie versucht, liberale Politiker und Medien, aber auch neutral eingestellte Stiftungen und Forschende auf ihre Seite zu ziehen“, sagt Muszel. Mit Erfolg, findet sie. 

Grzegorz Makowski ist ebenfalls Soziologe und Mitarbeiter der Stefan-Batory-Stiftung, einer NGO in Warschau. Er hat die Entwicklung der polnischen Zivilgesellschaft über die letzten Jahrzehnte erforscht. „Im kommunistischen Polen gab es keine Proteste und auch danach nur vereinzelt von Polizei, Stahlarbeitern oder Krankenschwestern und fast nur in Großstädten“, sagt er. Der Erfolg der Frauen sei es, die konservativ geprägten Mittel- und Kleinstädte mobilisiert zu haben.

Der liberale Spitzenkandidat der Opposition, Donald Tusk, machte reproduktive Rechte zu einem seiner Hauptthemen. Er forderte legale Abtreibungen bis zur zwölften Schwangerschaftswoche, so wie sie laut einer Umfrage zu diesem Zeitpunkt eine Mehrheit in Polen befürwortete. Hunderttausende folgten seinem Aufruf zur größten Demonstration im Land seit 1989. In den Monaten vor der Parlamentswahl 2023 riefen NGOs gezielt Frauen auf, zur Wahl zu gehen, um die Demokratie zu stärken.

In Umfragen schien das zunächst keinen Effekt zu haben, doch dann kam der Wahltag. 74,7 Prozent der Frauen wählten – mehr als je zuvor seit 1989 und mehr als die Männer mit 73,1 Prozent. Und sie wählten liberaler. Die PiS verlor gegen das oppositionelle Bündnis um Tusk, das ab jetzt regiert. Er versprach 100 Maßnahmen in den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit.

Noch steht der Staatspräsident im Weg

In Polen werden sowohl das Parlament als auch der Präsident in zwei verschiedenen Wahlen direkt vom Volk gewählt. Deshalb kann zwar das Parlament unter Tusk liberal-progressiv sein, Staatspräsident bleibt aber bis zur Präsidentenwahl im Sommer 2025 der rechtskonservative Duda.

Anna Maziarska ist pessimistisch wegen der verfahrenen Situation: Eine Partei der Regierungskoalition unter Tusk, der christlich-konservative „Dritte Weg“, ist gegen ein liberales Abtreibungsrecht. Zwar sind nun vier Gesetzesvorschläge in der zweiten Lesung im Parlament. Doch selbst wenn sich die Regierung auf einen Vorschlag einigt, könnte er an Andrzej Duda scheitern. Der Staatspräsident hat schon angekündigt, kein neues Abtreibungsrecht zu unterschreiben. Er hat das Recht, Gesetze zurückzuweisen. Mit einer Dreifünftelmehrheit vom Parlament könnte er allerdings überstimmt werden.

„Die Lage der Frauenrechtsbewegung ist fast schlechter als vor der Wahl“, sagt die Soziologin Magdalena Muszel. Es herrsche politischer Stillstand, aber die Frauen haben den Sieg der liberalen Regierung ermöglicht und können sie kaum so attackieren wie die PiS. Doch die Geduld schwindet. Nach dem Tod einer 25-Jährigen nach einer brutalen Vergewaltigung mitten in Warschau begannen im März 2024 wieder Proteste.

Seit den Protesten von Anna Maziarska und den Frauen des „Strajk Kobiet“ kam es zu Veränderungen – und zwar von unten. So existieren in Polen mittlerweile 51 Frauenräte, die auch in Kleinstädten und Dörfern versuchen, Einfluss auf die Politik zu nehmen. 2020 waren es noch vier, sagt die Soziologin Muszel. Bei den Kommunalwahlen Anfang April 2024 traten mehr junge Frauen an als je zuvor. Auch Maziarska wurde gefragt, ob sie nicht in die Politik gehen möchte, sie lehnte ab. „Der Kampf um Frauenrechte ist ein Marathon, für den wir eine starke, gebildete Zivilgesellschaft brauchen“, sagt sie. Daran wolle sie mitarbeiten.

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