Illustriertes Tonstudio mit Blick nach draußen

Ein Funksignal aus dem Off

Beim Peilsender machen psychisch erkrankte und straffällig gewordene Jugendliche Radio, sie produzieren Musiksendungen, Interviews oder Dokus. Viele von ihnen erfahren so zum ersten Mal, wie es ist, gehört zu werden

Von Erik Hlacer
Thema: Kultur
20. Juni 2025

Alarm. Zum zweiten Mal an diesem Morgen heult das Telefon der Klinikmitarbeitenden auf wie eine Sirene. Ein Jugendlicher ist ausgebüxt oder aggressiv geworden. Es braucht Verstärkung auf dem Gelände der Jugendpsychiatrie. Betreuer:innen stürmen aus Gebäuden, gestikulieren, eilen den Hang hinunter Richtung Hauptstraße. 

Tim* dreht derweil am Regler. Er sitzt im Studio des Peilsenders, in einem Container vor der Jugendklinik. Auf seinen blonden Haaren sitzt ein Kopfhörer, er zieht den Musikregler langsam nach unten und spricht los: „Herzlich willkommen beim Peilsender. Heute im Studio ist der Tim, und ihr hört Tims Mix.“

Tim trägt Jeans, weiße Sneaker und eine Sportjacke. Er ist 16, hört gerne Techno, redet am liebsten über Fußball und am allerliebsten über seinen Lieblingsklub Borussia Mönchengladbach.

Doch da ist auch ein anderer Tim. Einer, der aufgrund einer Sprachstörung manchmal Schwierigkeiten hat, Sätze zu bilden. Und der seit zehn Monaten im Maßregelvollzug des Pfalzklinikums untergebracht ist.

Das Ziel heißt Resozialisierung

Hier landen Jugendliche, die in der Regel zwischen 14 und 21 sind, eine Straftat begangen haben, aber aufgrund von Psychosen, Sucht oder Persönlichkeitsstörungen vermindert schuldfähig sind. In der Jugendpsychiatrie sollen sie schrittweise resozialisiert werden. Es gibt ein Stufensystem, das von nahezu ganztägigem Einschluss mit Stahltüren, Klappe und Videoüberwachung bis zur Dauerbeurlaubung, also quasi Freiheit auf Bewährung, reicht. Dazwischen sind variable Lockerungsstufen möglich. Jedes Stückchen Freiheit müssen sich die Jugendlichen erarbeiten.

Bei Tim ging es lange Zeit rauf und runter mit den Stufen. Inzwischen darf er sich mit Begleitung zeitlich unbegrenzt auf dem Klinikgelände bewegen. 

„Tim weiß, dass er nicht mehr zum Peilsender darf, wenn er Mist baut“, sagt Musiktherapeutin Saskia Schmitt, die den Peilsender gemeinsam mit Rudi Pericki und Lara Lüdkte betreut. „Deshalb reißt er sich zusammen.“ 

Beim Peilsender betreiben die Jugendlichen aus dem Pfalzklinikum ihren eigenen Radiosender. Sie machen Livesendungen, Interviews, zu besonderen Anlässen wie NS-Gedenktagen auch Reportagen, aber vor allem Musiksendungen. Tim hat jeden Dienstag seine eigene Sendung, „Tims Mix“. Er weiß genau, welche Knöpfe er zu bedienen hat, filtert bei der Liedauswahl Deutschrap-Songs danach, ob sie zumutbar sind, und hört sich seine Sendungen immer wieder selbst an, weil er die Vorstellung mag, gehört zu werden.

Mehr als 100 Leute hören zu

Rund um das rheinland-pfälzische Klingenmünster kann man den Peilsender auf der Frequenz 87,9 MHz empfangen. Und auch über das Webradio hören jeden Tag etwa 100 Menschen zu. Der Peilsender ist aber vor allem ein Radio von Patient:innen für Patient:innen. Die Jugendlichen geben sich gegenseitig Feedback und freuen sich miteinander, wenn sich jemand zum Beispiel zum ersten Mal getraut hat, eine Sendung zu moderieren.

Bei „Tims Mix“ war neulich Tims Therapeut Constantin Braun zu Gast. Die beiden sprachen – natürlich – über Fußball.  Constantin Braun war der Neuling. Tim hatte den Hut auf, schob die Regler, führte das Interview. „Das war ein bisschen wie ein Rollentausch“, sagt Braun, der überrascht war, wie gut sein sonst so wortkarger Patient sich vor dem Mikro ausdrückte.

28 Sendungen hat Tim inzwischen moderiert. Die 50. Sendung soll sein großes Jubiläum werden. Darauf arbeitet er hin. „Mit so einer richtigen Jubiläumsparty“, stellt Musiktherapeutin Saskia Schmitt ihm in Aussicht. Was auf jeden Fall dazugehören soll? 

„Pizza“, sagt Tim.
„Welche denn?“, fragt Schmitt.
„Egal, Hauptsache ohne Brokkoli.“

Die Jugendlichen lernen beim Peilsender vor allem zwei Dinge: Verantwortung zu übernehmen. Und Selbstwirksamkeit.

Aljoscha ist 20, hatte Drogenprobleme und ist ebenfalls im Maßregelvollzug untergebracht. Früher war Gangster-Rap sein Katalysator. „AK Ausserkontrolle und so“, sagt er, während er sich in den Sessel des Peilsender-Studios fläzt. Jetzt hört er Rap nur noch beim Sport. Die Texte der Gangster-Rapper auf sich zu beziehen, sei „totaler Quatsch. Es macht gar keinen Sinn, einen auf Gangster zu machen. Ich bin kein Gangster.“

Von der Sozialphobie zum eigenen Podcast

Den Peilsender mochte er sofort. So ein Studio mit Mikrofonen und dicken Mischpulten schindet Eindruck. Wäre da nicht seine Sozialphobie.

„Am Anfang habe ich mich nicht getraut zu sprechen“, erzählt er. Nur ab und zu hat er für Tim mal ein Lied rausgesucht, mehr nicht. Inzwischen redet er frei vor dem Mikro, will vielleicht sogar einen eigenen Podcast aufnehmen. Egal worüber, einfach quatschen.

Das Peilsender-Studio gibt es seit 2012. Saskia Schmitt und Rudi Pericki wussten, dass viele Jugendliche gerne Musik hören, aber nicht alle eine Musiktherapie machen können. Warum also nicht etwas Neues aufbauen? Die Jugendlichen selbst schleppten damals Möbel, verlegten den Teppichboden, hängten Akustikdämmplatten aus Schaumstoff an die Wände und schafften so den Peilsender. 

Das Wissen, wie man Radio macht, eigneten sich Saskia Schmitt und ihre Kolleg:innen irgendwie an. Noch immer hängt im Studio ein kleiner Zettel an der Wand, wie man die Stimme aufwärmt. Den hatte Schmitts Schwester geschrieben, die beim Radio arbeitet. Darauf steht: „Zunge in die Backen boxen“ und „Pferdeschnauben“.

Eigentlich war der Peilsender vor allem für Straftäter aus dem Maßregelvollzug gedacht. Die bleiben mindestens zwei Jahre im Pfalzklinikum und haben Zeit, Radiomachen zu lernen. Inzwischen kommen auch regelmäßig Jugendliche von der offenen Station rein. 

Jedes Mal eine kleine Achterbahnfahrt

Es ist Nachmittag. Im Studio sitzen jetzt Fio, Mia und Leonie. Auf dem Mischpult blinkt das „On Air“-Lämpchen. Fio greift zum Telefonhörer. „Hi, hier ist Fio. Könnt ihr auf unserer Station vielleicht das Radio anmachen? Wir sind live.“ Auf fast allen Stationen in der Psychiatrie stehen Radios.

Fio, Mia und Leonie sind nur für ein paar Monate in der Jugendklinik und gerne zusammen auf Sendung. Sie haben ohnehin den gleichen Musikgeschmack, am liebsten hören sie Billie Eilish.

„Es ist immer so eine kleine Achterbahnfahrt, bevor man live geht“, sagt Mia, während beim Peilsender gerade Musik dudelt. „Da ist man so richtig krass aufgeregt.“ „Stimmt“, sagt Mia. „Das fühlt sich an, wie in der Schule eine Präsentation vor der Klasse zu halten. Und sich dieser Angst zu stellen, kann echt was bewirken.“

In diesem Raum mit dem Chefsessel und den Schallschutzpolstern, dem Mischpult, aus dem die Mikrofonarme ragen wie Spinnenbeine – da ist es egal, ob man Straftaten begangen hat oder an einer Essstörung leidet. Wer hierherkommt, der wird gehört.

* Alle Jugendlichen heißen eigentlich anders, die Namen sind der Redaktion bekannt.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.

Illustration: Alexander Glandien