Achim Kohler hat den Cyberpunk-Roman »Neuromancer« von William Gibson nicht gelesen. Er kennt die Stelle nicht, in dem der Protagonist Henry Dorsett Case im Restaurant ein Steak vor sich hat statt des »vatgrown flesh«, billigem, blassem Kunstfleisch, mit dem in der düsteren Zukunft von Chiba City die Armen und Außenseiter abgespeist werden. Und auch der Mythos des »Animal 57«, eines künstlich gezüchteten Fleischblocks, der in einer Nährlösung schwimmen soll, und der laut Netzgerüchten die Grundlage für alle Produkte von KFC und Taco Bell darstellt, ist dem deutschen Physiker unbekannt.

Achim Kohler ist Wissenschaftler, er liest Datentabellen und Machbarkeitsstudien statt Science-Fiction und Blogs, und kommt zu dem Schluss: »Unsere Form der Fleischproduktion hat keine Zukunft.« Zusammen mit Molekularbiologen, Veterinären und Ingenieuren arbeitet er am norwegischen Lebensmittelforschungsinstitut Nofima Mat an einem realen »Animal 57«. Die Forscher züchten Tierzellen in Petrischalen heran, und wollen eine Technologie entwickeln, mit der man in naher Zukunft viele Tonnen sogenanntes In-vitro-Fleisch herstellen kann. Achim Kohler sagt: »Das ist kein Science-Fiction. Die Technologie existiert bereits.«

Im Jahr 2002 erregte ein von der NASA beauftragtes Experiment großes Aufsehen. Die Forscher züchteten Fischzellen in Petrischalen und spekulierten über die Möglichkeit von artifiziellen Fischfilets, die Astronauten auf der langen Reise zum Mars mit Proteinen versorgen könnten. Aber auch auf der Erde wird mit Hochdruck an In-vitro-Fleisch geforscht. Organisationen mit Namen wie New Harvest (Neue Ernte) oder The In Vitro Meat Consortium werben um Forschungsgelder und Unterstützung in der Öffentlichkeit. Biologen an der Universität Utrecht haben ein Projekt gestartet, das von der niederländischen Regierung mit fünf Millionen Euro unterstützt wurde, und sind nun in der Lage, wenige Gramm Muskelgewebe herzustellen, das auf Stammzellen von Schweinen basiert. Selbst die Vereinten Nationen diskutieren das Thema ernsthaft. Schließlich werden im Jahr 2050 neun Milliarden Menschen auf der Erde leben. Der Fleischkonsum wird sich bis dahin verdoppeln. »Wir müssen uns damit beschäftigen, wie wir die ganzen Menschen auf dem Planeten ernähren wollen«, sagt Anthony Bennett von der Food and Agricultural Organization (FAO) der Vereinten Nationen.

Ein Steak oder Schweinekotelett, das auf dem Teller so ganz und natürlich aussieht, zerfällt unter dem Mikroskop in viele kleine Teile. »Fleisch besteht im Wesentlichen aus Muskeln, Fett und Bindegewebe«, sagt Bernard Roelen, Molekularbiologe an der Universität Utrecht, »wenn man diese Zellen im Labor heranzüchtet und im richtigen Verhältnis zusammenführt, dann ist man schon sehr weit.« Die In-vitro Fleisch-Forscher, erklärt Achim Kohler, profitieren dabei vor allem von den Erfahrungen der Humanmedizin, der es seit Jahren gelingt, Haut- und Knorpelzellen in Petrischalen zu züchten.

Sie geben nach ein paar Bieren zu, es schon mal probiert zu haben

Und so sieht der Prozess aus: Im Labor werden Stammzellen in eine nährstoffreiche Lösung gegeben, die sich dann in einem speziellen Gefäß (dem Bioreaktor) vermehren. Die Millionen von Zellen werden später auf eine geriffelte Silikonfläche aufgetragen, die als Trägermedium fungiert. Indem man das Silikongerüst regelmäßig dehnt und staucht, werden die Zellen dazu angeregt, sich aneinanderzureihen und später zu Muskelfasern zu verbinden. Am Ende erhält man ein flaches, dünnes Gewebestück von einer maximalen Stärke von 0,5 Zentimetern und wenigen Gramm (das zurzeit 60.000 Euro kostet). Die Forscher geben gerne zu, dass das weiche, farblose Gewebe zurzeit noch wenig appetitlich aussieht. Ein Filet Mignon oder ein Stück des berühmten Kobe Beefs aus Japan wird man auch in Zukunft nicht im Labor gewinnen. Denn um Muskelstränge und dicke Fleischstücke herzustellen, müsste man in der Lage sein, Adern und Gefäße zu konstruieren, die die Nährstoffversorgung der Zellen im Inneren sicherstellen. »Das wird noch lange Zeit dauern«, sagt Achim Kohler. In-vitro-Fleisch könnte aber in einer gehackten oder gemahlenen Form bereitgestellt und für Burger, Wiener Würste oder Chicken Nuggets verwendet werden.

Achim Kohler ist kein Vegetarier, er schätzt die naturverbundene Landwirtschaft von Norwegen, und »isst gerne ein Stück Rentier oder einen Lachs. Aber es läuft ja nicht überall so natürlich wie hier«. In-vitro- Fleisch, meint er, könnte die negativen Seiten der industriellen Fleischproduktion ausgleichen: »Unsere Massentierhaltung ist teuer, umweltschädlich und gesundheitsgefährdend.« In-vitro-Fleisch würde in einer kontrollierten Umgebung hergestellt, sagt Kohler. Da wären kein BSE, keine Salmonellen und keine Vogel-Schweine-Hasen-Grippe. Laut FAO sind die Massentierhaltung und Farmfabriken – vor allem für die Rinder unter den 56 Milliarden Nutztieren – für fast ein Fünftel der Treibhausgase verantwortlich – das ist ein höherer Anteil als der des globalen Verkehrs. Allein der jährliche Rindfleischkonsum eines Durchschnittsamerikaners, berichtet der Scientific American, verursache so viel CO2- Emissionen wie eine 3.000-Kilometer-Spritztour.

Die Produktion von In-vitro-Fleisch würde nur einen Bruchteil der Energie verbrauchen. Das Kunstfleisch wäre, vermutlich nur sprichwörtlich, grün. Noch ist es offiziell nicht erlaubt, Testessen mit den Zellhaufen zu veranstalten. Aber Jason Matheny, der Gründer der Kunstfleisch-Lobbyorganisation New Harvest, erzählt, dass es Forscher gibt, »die nach ein paar Bier gerne zugeben, schon mal probiert zu haben«. Eklig findet Matheny das nicht. »Da weiß man wenigstens, was drin ist.« Auch Achim Kohler ist von den Vorteilen der Methode überzeugt. »Man könnte die gesundheitsschädlichen Fettsäuren aus den tierischen Proteinen entfernen«, sagt er, und so vielleicht einen Burger mit dem Nährwert eines Lachssteaks oder einer Avocado herstellen. Wem das zu sehr nach Industrienahrung klingt, für den hat Jason Matheny eine klare Antwort: »Wenn man die gegenwärtige Fleischproduktion anschaut, bei der Hühner mit Hormonen vollgepumpt werden, bis sie drei Mal so schnell wie normal wachsen, und dann zu Zehntausenden in Drahtkäfige eingesperrt werden, um in ihrem eigenen Unrat zu leben, dann klingt das doch auch nicht nach einer natürlichen und sicheren Methode.«

Auch deshalb bringt die Idee vom Kunstfleisch seltsame Allianzen hervor, da reden Genforscher plötzlich mit Umweltschützern, und Hardcore- Veganer verbünden sich mit Lebensmittelchemikern. Die Tierschutzorganisation PETA hat vergangenes Jahr sogar einen millionenschweren Forschungspreis für das Team ausgeschrieben, das es vor 2012 schafft, eine marktfähige Technologie für die Hühnerfleischproduktion zu entwickeln entwickeln – und den Fleischkonsum zu einer gewaltlosen Angelegenheit machen würde.

Im Jahr 1932 schrieb Winston Churchill einen Aufsatz über die Zukunft. »In 50 Jahren werden wir der Absurdität entkommen, ein ganzes Huhn aufzuziehen, nur um die Brust oder Flügel zu essen, und stattdessen dieses Teil separat in einem passenden Medium herstellen.« Der spätere britische Premier war zwar ein wenig optimistisch, was den Zeitrahmen angeht, aber er hatte eine korrekte Vorstellung von der Vorgehensweise. Das »passende Medium« aus Vitaminen, Aminosäuren, Salzen und Zucker, in dem das Kunstfleisch in großem Stil herangezogen werden könnte, suchen die Wissenschaftler in Norwegen und Holland aber immer noch. Die Flüssigkeit, mit der man an der Universität Utrecht arbeitet, ist nicht nur teuer, sondern basiert auch auf Rinderblut. Die Forscher experimentieren – ganz vegetarisch – mit Algen und Pilzen, und wollen in den nächsten fünf bis zehn Jahren eine erste Testanlage entwickeln, um die Wirtschaftlichkeit und Machbarkeit der Technologie zu beweisen. In 20 Jahren könnte dann In-vitro Fleisch tatsächlich in den Supermarktregalen liegen. »Die Konsumenten interessieren sich nicht dafür, woher ein Produkt kommt«, sagt Jason Matheny von New Harvest, der Erfolg von Analogkäse und Fast Food sei dafür der Beweis. »In-vitro-Fleisch wird billig sein und macht kein schlechtes Gewissen.« Allerdings sollte sich New Harvest noch einen besseren Namen einfallen lassen. »In-vitro« klingt zu sehr nach Labor, weißen Kitteln und künstlicher Befruchtung. Aber das Marketing kommt nach der Grundlagenforschung.

Tobias Moorstedt hat sich riesig gefreut, dass er sich endlich mal mit In-vitro-Fleisch beschäftigen durfte. Bald erscheint sein neues Buch, »Das Jetzikon – 50 Kultobjekte der Nullerjahre«, bei Rowohlt (gemeinsam mit Jakob Schrenk).