
Giftige Geschichte
Vor rund 100 Jahren wurde die Bevölkerung des Rif-Gebirges im Norden Marokkos mit Giftgas bombardiert, das auch aus deutscher Produktion stammte. Unter den Folgen leidet die Region bis heute
„Sie haben sie nicht mehr gefunden“, sagt Brahim Boukhizzou über seine Urgroßmutter. Mimount Tahdouchahoun hieß sie, und ihre Geschichte sei in seiner Heimatregion weithin bekannt, erzählt der 36-Jährige. Seine Urgroßmutter habe sich einfach aufgelöst, als eine Gasbombe sie auf dem Feld traf. Es gab keinerlei Überreste mehr von ihr, berichteten Augenzeugen der Familie.
Die Heimat von Mimount Tahdouchahoun und auch die von Brahim ist das Rif-Gebirge. Ganz im Norden Marokkos erstreckt es sich über mehrere Hundert Kilometer an der Mittelmeerküste, von Tanger im Westen bis nach Nador im Osten. Vor 100 Jahren war es der Schauplatz eines der größten Kriegsverbrechen zwischen den beiden Weltkriegen. Damals führte Spanien, das als Kolonialmacht den Norden Marokkos als sein Eigentum betrachtete, einen Krieg gegen die lokale Bevölkerung, die nach Unabhängigkeit strebte. Nach anfänglichen Erfolgen gegen Spanien rief die Rebellenbewegung unter Abd el-Krim 1923 gar eine unabhängige Rif-Republik aus.
Angesichts immenser Verluste änderten die Spanier ihre Strategie und setzten Giftgas ein. Unterstützt wurden sie dabei auch von einem deutschen Chemiefabrikanten, dem Hamburger Hugo Stoltzenberg. Er gab sein Wissen an das spanische Militär weiter und versorgte es mit chemischen Kampfstoffen – obwohl die Herstellung in Deutschland laut Versailler Vertrag verboten war. Umgangen wurde dieses Verbot durch den Bau einer Fabrik in der damaligen Sowjetunion. In all diese Aktivitäten war die deutsche Reichswehr eingeweiht und unterstützte sie zum Teil aktiv.
500 Tonnen Senfgas, sogenanntes „Lost“, wurden von 1923 bis 1926 über dem Rif abgeworfen. Es wurde gezielt auch gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt. Städte, Dörfer, Märkte und Felder blieben danach verseucht. Die Opferzahlen? Unbekannt, Wissenschaftler*innen schätzen: Tausende. Die Folgen? Weitgehend undokumentiert. Und doch bis heute spürbar. Die Krebsrate in der Region ist um ein Vielfaches höher als im Rest des Landes.
„Von denen, die überlebten, hatten viele Menschen Deformationen im Gesicht und am Körper“, sagt Brahim im Videocall. Für seine Großeltern sei es Teil ihrer Kindheit gewesen, Menschen mit solch sichtbaren Spätfolgen im Umfeld zu haben. Ein Großteil dieser ersten Generation habe nach den Attacken nur noch wenige Jahre gelebt, erzählt Brahim. Er ist vor rund zwei Jahren aus dem Rif-Gebirge ausgewandert und lebt heute im französischen Montpellier.
Und immer wieder Krebs
Was alle Generationen wieder und wieder durchmachten, sei die Häufung der Krebsfälle. Brahim sagt, seine Großmutter sei letztes Jahr an Krebs gestorben. Zweimal sei sie in Frankreich zur Chemotherapie gewesen, doch sie konnte nicht geheilt werden. Zuvor starben bereits ein Onkel und zwei Tanten von Brahim an Krebs, im Alter von 46, 47 und 57 Jahren – das sind drei der sieben Kinder seiner Großmutter.
Bis heute erinnert vieles an den Krieg. Dieser Mörser war früher eine Bombenhülse
Jamal (Name geändert) hat ebenfalls bereits viele Familienmitglieder an Krebs verloren. Er lebt in einem Dorf zwischen Nador und Melilla. „Wenn es stark geregnet hat und Boden weggespült wurde, haben wir beim Spielen immer wieder Bombenhülsen und Munition gefunden“, beschreibt Jamal seine Erfahrungen als Kind. Die Überreste der Giftgaskartuschen und konventionellen Bomben würden in der Bevölkerung oft wiederverwendet – auch in der Küche seiner Familie wird eine Bombenhülse heute noch als Mörser für Gewürze genutzt. Davon schickt er ein Foto.
Auch mit dem 34-Jährigen ist nur ein Gespräch via Videocall möglich. Menschen aus dem Rif-Gebirge zu finden, die offen reden wollen, ist sehr schwierig. Es sei nicht ratsam, mit einer europäischen Journalistin gesehen zu werden, das bekommt man vor Ort immer wieder zu hören: „Du gehst zurück in dein Land, und wir werden sie nicht mehr los.“
„Sie“, damit meint Jamal die Spitzel des marokkanischen Geheimdienstes. Erst 2017/2018 wurden die Proteste der „Hirak Rif“ (Rif-Bewegung), die gegen die Vernachlässigung der Region durch die marokkanische Regierung kämpft, teils gewaltsam niedergeschlagen. Prominente Anführer wurden zu bis zu 20 Jahren Haft verurteilt. Die marokkanische Regierung fürchtet separatistische Bestrebungen wie vor hundert Jahren.
Die Gesundheitsversorgung ist schlecht
Die Forderungen der Hirak Rif zielen auf verbesserte Lebensbedingungen für die Menschen im Rif: Ausbau der Infrastruktur, der Bildungseinrichtungen und vor allem der Gesundheitsversorgung – also mehr Krankenhäuser, medizinisches Personal und Ressourcen sowie eine Krebsklinik. Bisher müssen die Patienten nämlich ins Hunderte Kilometer entfernte Oujda fahren oder in die Hauptstadt Rabat. Und Krankenwagen brauchen Stunden, um in die Dörfer zu gelangen.
Auch Jamal will nach Europa, denn wegen „seiner langen Zunge“ sei er bereits viermal im Gefängnis gewesen, sagt er. Er habe zu den Verhältnissen in der Region nicht schweigen können. Aus Rücksicht auf seine Familie wolle er anonym bleiben, er selbst sei ein „freier Mensch“ und sage darum auch frei seine Meinung. Aus seinen Worten ist Frust und Verbitterung herauszuhören, denn es hat sich auch nach den Protesten wenig geändert.

Blick über das Rif-Gebirge im Jahr 1925, ein Jahr vor Ende des Krieges
Foto: IMAGO / United Archives International
Die Ausstattung der Krankenhäuser in Al Hoceïma und Nador sei bis heute mangelhaft. Zwar gibt es inzwischen eine kleine Onkologie in Nador, die 2023 eine Studie zu den häufigsten Krebsarten im Rif veröffentlichte – doch für die Menschen vor Ort, so Jamal, stelle das Klinikgebäude eher eine Kulisse dar, in der es an Ausstattung und medizinischem Personal eklatant mangeln würde
Jamal beklagt die hohen Behandlungskosten, die sich viele Menschen nicht leisten könnten. Wer in die Hauptstadt oder besser noch nach Europa gehe, hätte gute Chancen auf Heilung, „aber hier lässt der Staat die Kranken im Stich“. Er kenne Menschen, die ihr Grundstück verkaufen mussten, um Transport und Therapie in Rabat zu bezahlen.
Deutschlands Verantwortung
Der britische Historiker Sebastian Balfour hat sich jahrzehntelang mit dem Rif-Krieg beschäftigt. Für ihn ist klar, wer Verantwortung übernehmen müsste: Spanien in erster Linie, denn die Spanier setzten das Giftgas ein. Doch auch Deutschland müsse seinen Anteil an den Kriegsverbrechen anerkennen. Zwar machte der Chemiefabrikant Hugo Stoltzenberg zunächst auf eigene Faust mit den Spaniern Geschäfte: „Er war ein Privatmann, er hatte eine eigene Firma.“ Doch an den Verhandlungen sei eben auch die Reichswehr beteiligt gewesen. Sie habe die Verschiffung des Gases organisiert.
Zudem müsste sich die internationale Krebsforschung endlich ernsthaft für das Thema interessieren, meint Balfour: In Studien wurde bereits ein Zusammenhang zwischen Senfgas und Veränderungen an der DNA nachgewiesen, die zu Krebserkrankungen führen und auch vererbbar sein können. Untersuchungen mit Veteranen des Iran-Irak-Krieges aus den 1980er-Jahren offenbarten, dass „Krebs eine Folge der Senfgaskontamination in der Vätergeneration“ sei. Wie viele Generationen lang dieser Effekt anhalte, sei offen.
Für Jamal steht fest, dass er bald nach Europa will. Er fürchtet weitere politische Repressalien. Brahim hat gute Gründe, in Frankreich zu bleiben, allein wegen seiner bisherigen Erfahrungen mit der Gesundheitsversorgung: „Es ist ein Unterschied wie Tag und Nacht.“
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