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Ordentlich was los im Belohnungszentrum

Hirnforscher haben nachgewiesen, dass ein Social- Media-Like uns ähnlich stimuliert wie Essen, Trinken, Sex oder Drogen. Können Insta und Co. psychisch krank machen?

  • 20 Tiktoks schauen
Dopamin

„Ich habe es selber nicht mehr unter Kon­trolle. Vor allem TikTok macht mich süchtig.“ Es klingt ziemlich erwachsen und selbstkritisch, wenn die 14-jährige Paula aus München über ihr Medienverhalten spricht. Allein auf TikTok ist sie jeden Tag drei bis vier Stunden unterwegs. Dazu kommen noch Chats, Filme, ein bisschen Instagram. Die Bildschirmsperre, die sie sich selbst auf 90 Minuten gesetzt hat, umgeht sie, indem sie vom Smartphone auf das Tablet wechselt. Andere Dinge vernachlässigt sie dann: das Training im Turnverein, manchmal die Hausaufgaben. Dabei sagt Paula über sich, dass sie schon früh über die Gefahren von Social Media aufgeklärt wurde. In der Schule und von ihrer Mutter. „Das heißt aber nicht, dass man vor allen Gefahren geschützt ist.“

Die Welt, in der sich Paula bewegt, ist voller Inspirationen, interkulturellem Austausch und unerschöpflichem Wissen, aber auch voller Filter und Schönheitsideale, Hateposts und Gewalt. Eine aktuelle Studie der University of London zeigt, wie sehr diese negativen Aspekte vor allem junge Frauen beeinflussen: 90 Prozent der Befragten bearbeiten ihre Bilder vor dem Posten, 70 Prozent fühlen sich unter Druck, ein perfektes Leben zeigen zu müssen. 60 Prozent fühlen sich manchmal deprimiert, weil sie glauben, dem Schönheitsideal nicht gerecht zu werden. Auch Paula sagt, dass sie sich ständig mit anderen vergleicht. „Die Beautytrends verunsichern eigentlich alle in meinem Alter.“ Sie fragt sich, was das dann erst mit all den Acht- oder Neunjährigen macht, die auch schon auf TikTok und Instagram sind.

Diese Gedanken hat sich Ute Kreutzer auch schon gemacht. Doch von all den Regeln, die sie einst zum Schutz ihrer Kinder aufgestellt hat, ist nur noch eine einzige in Kraft: Jeden Abend Punkt 23 Uhr müssen Felix und Johanna ihre Smartphones vor ihr Zimmer legen – über Nacht sind die Geräte für die beiden Teenager tabu. Alles andere kann Kreutzer bei ihrem bald 17-jährigen Sohn und der 14-jährigen Tochter nicht mehr durchsetzen: nicht den bildschirmfreien Tag in der Woche, nicht die zeitliche Begrenzung bestimmter Apps. Die mütterliche Kontrolle über Posts und Follower gehört auch der Vergangenheit an. „Es ist total aus dem Ruder gelaufen“, sagt Kreutzer. „Nach der Schule sind die beiden eigentlich ständig an den Geräten.“

Und damit sind Felix und Johanna ziemlich normale Jugendliche. Laut der jüngsten Studie „Jugend, Information, Medien“ (JIM) von 2021 sind 12- bis 19-Jährige im Schnitt jeden Tag gut vier Stunden im Netz unterwegs. Je nach Alter und Geschlecht eher auf Whats-App, Instagram, YouTube, Snapchat oder TikTok. Felix zockt gern und chattet mit seinen Schulfreunden auf der Gamerplattform Discord. „Das können schon mal fünfeinhalb Stunden am Tag sein“, sagt er. Johanna guckt sich vor allem TikTok-Videos an oder ist auf Instagram oder Snapchat. „Ich weiß, dass das nicht die sinnvollste Freizeitbeschäftigung ist“, sagt sie. „Aber es macht Spaß.“ Die Geschwister haben seit ihrem zehnten Geburtstag ein eigenes Smartphone – wie mittlerweile 94 Prozent der Jugendlichen in ihrem Alter. Beide beteuern aber: Süchtig seien sie nicht.

Likes, Retweets, Antworten, Kommentare, Freundschaftsanfragen – all das belohnt unser Gehirn

Welche Folgen das ständige Onlinesein für junge Menschen hat – darüber sind sich Wissenschaftler uneins. Klar ist: Beim Posten, Liken und Geliktwerden wird im Gehirn das Belohnungszentrum aktiviert wie sonst beim Essen, Trinken, Sex und Geld – oder beim Drogenkonsum. Daher warnen manche vor den Gefahren übermäßiger Mediennutzung. So wie die Autoren der BLIKK-Studie, die die Bundesregierung in Auftrag gegeben hat. Kinder- und Jugendärzte haben dafür rund 5.500 Eltern und deren Kinder befragt. Ihr Ergebnis: Teenager, die viel am Smartphone oder Tablet hängen, leiden häufig an Hyperaktivität, Übergewicht und Konzentrationsstörungen. Mehr als jeder sechste Jugendliche habe zudem Probleme, die eigene Internetnutzung zu kontrollieren – ein Anzeichen für ein klassisches Suchtverhalten. Als die Studie herauskam, lauteten die Schlagzeilen: „Zu viel Smartphone macht Kinder krank“, „Übermäßiger Medienkonsum gefährdet Gesundheit von Kindern und Jugendlichen“ oder: „Schon Kitakinder spielen täglich auf dem Smartphone – mit Folgen“.

Das stimmt so aber nicht, sagt die Gegenseite – und verweist auf die Methodik. Tatsächlich arbeitet die BLIKK-Studie mit Korrelationen, nicht mit Kausalitäten. Anders formuliert: Die Studie stellt statistische Zusammenhänge fest. Dass das ständige Onlinesein wirklich die Ursache dafür ist, dass Jugendliche dick oder mediensüchtig werden, ist nicht erwiesen. Möglich ist, dass eine Vielzahl von Faktoren dafür verantwortlich ist. Etwa ob sich Eltern um ihre Kinder kümmern. Auch gibt es Kritik an Studien, die beispielsweise die Zunahme von Depressionen oder Suizidgedanken bei Jugendlichen auf die Nutzung von Social Media zurückführen.

Doch wie lassen sich dann all die psychischen Probleme erklären, die es ja offensichtlich gibt? Nach einer Studie von Suchtexperten am Universitäts­klinikum Hamburg-Eppendorf ist in Deutschland derzeit fast jeder Zwanzigste (4,6 Prozent) im Alter zwischen 10 und 17 Jahren im Umgang mit Sozialen Medien suchtgefährdet – ein deutlicher Anstieg zu Vorpandemiezeiten. Auch die Zahl der Jugendlichen mit „riskantem“ Nutzungsverhalten ist gestiegen: Mehr als jeder zehnte ist mittlerweile betroffen. Rechnet man beide Gruppen zusammen, kommt man auf rund 800.000 Kinder und Jugendliche, die ihren Medienkonsum nicht im Griff haben. Suchtforscher verstehen darunter vor allem, dass die Kinder und Jugendlichen immer länger vor dem Bildschirm hängen – bis sie nicht mehr davon loskommen. Eine Gefahr, die sich aus ihrer Sicht in Lockdownzeiten noch erhöht. Warnsignale seien, wenn Kinder ihre sonstigen Hobbys oder schulischen Pflichten vernachlässigen, Kontakt zu Eltern und Freunden meiden – und ihr eigenes Nutzungsverhalten nicht realistisch einschätzen können.

Für die meisten Social-Media-Apps muss man in Deutschland mindestens 13 Jahre alt sein. Dass Kinder die Altersbeschränkung umgehen, scheint die Konzerne nicht zu stören. Dabei sind ihnen die Gefahren, die von ihren Produkten ausgehen, offenbar sehr wohl bekannt. Nach den Enthüllungen der Whistleblowerin Frances Haugen soll Meta aus internen Studien wissen, wie problematisch Instagram für das Selbstwertgefühl von Mädchen ist. Rückschlüsse, wie etwa die Notwendigkeit verschärfter Alterskon­trollen, hat Meta daraus nicht gezogen. Immerhin: Die Pläne einer eigenen Instagram-Plattform für Kinder unter 13, die auf viel Kritik gestoßen sind, hat der Konzern vorerst auf Eis gelegt.

„Klar umgehen viele junge Nutzer die Jugendschutzeinstellungen“, sagt die Berliner Medienpädagogin Julia Behr. Trotzdem rät sie Eltern von pauschalen Verboten ab. „Dann schließt man das Kind nur sozial aus und setzt es ungewollt einer anderen psychischen Belastung aus.“ Besser schützen könne man die Kinder, wenn sich die Eltern selbst mit den Plattformen beschäftigen und dann mit den Kindern über Probleme sprechen. Wenn Jugendliche TikTok-Videos drehen, sei das auch kreativ. Viele Erwachsene würden das aber gar nicht so wahrnehmen. Eltern empfiehlt sie deshalb, zuzuhören, auf Warnsignale zu achten – und die Kinder lieber früher als später zum reflektierten Umgang mit den Sozialen Medien zu erziehen. 

In den sozialen Medien stößt Johanna auf unrealistische Schönheitsideale – aber auch auf feministische Literatur

Auch Ute Kreutzer hat sich das vorgenommen. Gerade bei ihrer Tochter war ihr wichtig: keine Adressen veröffentlichen, Vorsicht beim Posten von Fotos. Gefahren, die Johanna ernst nimmt und an die sie ihr Verhalten anpasst. Seit einiger Zeit aber beobachtet Kreutzer, wie sehr ihre Tochter plötzlich auf ihre Ernährung achtet. Kreutzer glaubt, dass das mit den Schönheitsidealen bei TikTok & Co. zu tun hat. Wie stark dort Äußerlichkeiten bewertet werden, fällt auch Johanna auf. „Man sieht überall Kommentare zum Körper, dass jemand zu dick oder hässlich ist.“ Sie selbst wurde bisher nicht zur Zielscheibe. Vielleicht weil sie sich mit Vorsicht im Netz bewegt. „Ich kommentiere generell nicht.“ Sie sucht vor allem Backrezepte – und seit Neuestem auch Empfehlungen für feministische Literatur. Vor Kurzem hat sie ihr erstes Buch bestellt – und mit dem Lesen begonnen. „Das hat sie früher nie inte­ressiert“, staunt ihre Mutter.

Für den Psychologen Christian Bosau ist das ein gutes Beispiel dafür, warum er wenig von pauschalen Verteufelungen von Sozialen Medien hält. „Einerseits gibt es die Gefahren, keine Frage.“ Gleichzeitig lernen Jugendliche dort ein Stück weit die Welt kennen, entdecken dort neue Hobbys und treffen vor allem Gleichaltrige. „Für die meisten Jugendlichen erfüllen Social Media ein Grundbedürfnis nach sozialem Kontakt“, so Bosau. Die Herausforderung sei, ein gesundes Maß zu finden. Das aber werde durch die entsprechenden Unternehmen bewusst erschwert: „Die Smartphones sind so konzipiert, dass sie unser soziales Bedürfnis ständig bedienen.“ Etwa indem sie bei jeder eintreffenden Nachricht ein Geräusch von sich geben. Die 14-jährige Paula sagt: „Wenn ich am Tag nicht mit mindestens zehn Leuten schreibe, fühle ich mich einsam.“

Deshalb sei das Suchtpotenzial von Social Media nicht von der Hand zu weisen, sagt Bosau. Wie alltäglich diese Abhängigkeit ist, hat er mit seinen Studierenden an der Rheinischen Fachhochschule Köln untersucht. In einem Experiment wurde zwei Gruppen dieselbe Aufgabe gestellt – einer jedoch unter einem Vorwand die Telefone abgenommen. Das Ergebnis: War das Gerät nicht im Raum, lagen Konzen­tration und Leistung deutlich höher. „Man könnte sagen, die Smartphones konditionieren unser Nutzungsverhalten“, so Bosau.

Jeder zweite junge Mensch hat das Gefühl, etwas zu verpassen, wenn das Telefon ausgeschaltet ist

Wie sehr das Smartphone seinen Alltag diktiert, stellt auch Moritz fest. Der 16-Jährige kommuniziert in sehr vielen Chatgruppen: Freundeskreise, Sportverein, Jugendradio. Manchmal erhält er 60 Nachrichten in einer halben Stunde. Jedes Mal blinkt und vibriert sein Telefon. „Es sind kleine Glücksmomente“, sagt Moritz. Und stellt dann aber fest: Er verspürt den Drang, immer sofort darauf zu reagieren – aus Angst, etwas zu verpassen. Fear of Missing Out, kurz FOMO, nennen Psychologen das Phänomen.

Laut JIM-Studie hat fast jeder zweite Jugendliche dieses Gefühl, wenn sein Telefon ausgeschaltet ist. Genauso viele gaben aber auch an, von den vielen Nachrichten auf dem Handy genervt zu sein. So geht es auch Moritz: Vor Kurzem hat er deshalb die Pushnachrichten von seinem Smartphone ausgestellt. „Ich reagiere jetzt nicht mehr immer sofort.“ Sein Umgang mit WhatsApp & Co. sei dadurch deutlich bewusster. Der soziale Druck, ständig erreichbar zu sein, ist bei ihm weniger geworden.

Auch Psychologe Christian Bosau empfiehlt, das Smartphone mal ganz bewusst wegzulegen. Allein um zu kontrollieren, wie gut man es ohne aushält. Klar sei aber: Wer schon ein suchtartiges Verhalten entwickelt habe, der wird ohne fremde Hilfe nicht einfach auf einen bewussten Umgang umstellen können. Entscheidend sei dann das soziale Umfeld: also Eltern und Freunde. Der 14-jährigen Paula beispielsweise helfen die Treffen mit einer Freundin, der es ebenfalls schwerfällt, von TikTok loszukommen. Immer samstags verbringen sie einen – möglichst analogen – Tag miteinander.

Für Ute Kreutzer ist der Gradmesser: Haben ihre Kinder noch Hobbys außerhalb der virtuellen Welt? Bei beiden Kindern ist sie dann doch beruhigt. Felix macht an zwei Abenden die Woche Sport. Und Johanna backt gern und liest neuerdings Bücher.

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