Thema – Sprache

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Livisch soll leben

Die livische Sprache gilt seit fünf Jahren als ausgestorben, doch noch immer kämpfen einige für ihr Fortbestehen

Baiba Šuvcāne

Es sind drei Orte, die Baiba Šuvcāne im Kopf hat, wenn sie daran denkt, was von ihrer Kultur und vor allem ihrer Sprache noch übrig geblieben ist: das Haus ihres Großvaters, das kleine Kulturzentrum – und der Friedhof.

Die livische Sprache

Livisch gehört zur finnougrischen Sprachfamilie. Hauptsächlich wurde es in der lettischen Region Kurland in kleinen Fischerdörfern an der sogenannten livischen Küste gesprochen. Es ist dem Estnischen sehr ähnlich. Livisch verfügt über 23 Konsonaten, 8 Vokale und 12 Doppelvokale. Der Einfluss des Lettischen und auch Deutschen war sehr stark, was man sowohl an typischen Familiennamen als auch an Lehnwörtern wie tsukkõr (Zucker) erkennen kann. Durch die weitgehende Isolation an der Küste und das einfache Leben vom Fischfang war Livisch meist nur gesprochene und nur selten Schriftsprache. Nach der Angliederung Lettlands an die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg geriet die Sprache immer mehr ins Hintertreffen. Vor allem die Deklaration der Küste zum Sperrgebiet und der dadurch vielen Orten fehlende Zugang zum Meer sowie die Organisation der Fischerei in Kolchosen, die den Liven den freien Fischfang verbot, sorgten für eine Abwanderung ins Landesinnere, die auch die Sprache marginalisierte. Die letzte Muttersprachlerin, Grizelda Kristiņa, starb 2013 mit 103 Jahren in Kanada.

Die 71-Jährige stapft durch knöcheltiefen Schnee, der noch im März im Garten vor dem kleinen Fischerhaus liegt. Als Kind verbrachte sie hier, in Kolka, an der Küste der Rigaer Bucht, ihre Sommer. In einem kleinen Waldstück neben dem Haus reihen sich die Kiefern. Dahinter versperrt eine schneebedeckte Düne den Blick auf die Ostsee. Šuvcāne zog es von Riga hierher, weil es ihre Wurzeln seien, wie sie sagt, die mit diesem schneebedeckten Garten untrennbar vereint sind.

„Ich erinnere mich noch an den Klang, diese Harmonie der Worte, die hier am Gartenzaun ausgetauscht wurden“, sagt sie. „Ich habe sie danach kaum noch in dieser Schönheit gehört.“ Seit fünf Jahren nun ist sicher, dass sie dies auch nie wieder wird. Šuvcāne ist Livin. Livisch war an der westlichen Küste Lettlands lange verbreitet. In den bewegten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts war die Sprache permanent vom Aussterben bedroht. Vor fünf Jahren starb die letzte Muttersprachlerin.

Šuvcāne kennt ihre Geschichte. Sie hat mehrere Bücher über die livische Küste und die „letzten Liven“ geschrieben. Nun leitet sie den kleinen livischen Kulturverein mit angrenzendem Museum, das eigentlich nur ein Raum mit wild zusammengewürfelten Alltagsgegenständen der letzten 150 Jahre ist. Vieles davon hat Bezug zur Fischerei. In der Ecke steht die grün-weiß-blaue Fahne der Liven, die symbolisiert, was Fischer auf ihrer Fahrt zurück an Land sahen: das Blau des Meeres, den weißen Strand, die grünen Kiefernwälder. Die Liven waren seit jeher mit dem Meer verbunden. Nachdem die sowjetische Administration das Fischen in der Ostsee außerhalb der Kolchosen verboten hatte, beschleunigte sich der Abstieg des Livischen. Was davon übrig blieb, dokumentiert Šuvcāne. Sie selbst spricht die Sprache kaum.

Niemand versteht Livisch besser als Valts Ernštreits

Einer, der das noch tut, wohnt im 160 Kilometer entfernten Riga. Valts Ernštreits ist das sprachliche Gedächtnis der Liven. Jahrelang hat der Linguist die Sprache studiert. Niemand versteht Livisch besser als der 43-Jährige. Das livische Vermächtnis ist für Ernštreits zur Mission geworden. Seit über zwei Jahrzehnten widmet er sich vor allem dem Livischen, besuchte die letzten Muttersprachler, dokumentierte ihren Wortschatz. An der Universität Tartu im Nachbarland Estland gibt er Kurse in livischer Sprache. Auch in Lettland war es noch bis vor einigen Jahren möglich, die Sprachkurse vor allem an der Uni zu belegen. Livisch wurde zudem ins nationale Sprachengesetz und in die Verfassung aufgenommen. Im Zuge der weltweiten Finanzkrise Ende der Nullerjahre wurden die meisten Angebote gestrichen. Die Nachfrage ist seither nicht wieder gestiegen. Die Sprache, die klingt, wie wenn ein Russe versucht, stark affektiertes Finnisch zu sprechen, ist schwer zu lernen und noch schwieriger zu beherrschen. Und wenn man es doch auf ein passables Niveau geschafft hat, wird man feststellen, dass sie kaum anwendbar ist. Literatur ist Mangelware. Halbwegs passable Sprecher findet man selbst auf Smalltalk-Niveau neben Ernštreits kaum. Hinzu kommt, dass die Sprache im Prozess ihres Verschwindens kaum neues Vokabular aufbaute.

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Valts Ernštreits

Valts Ernštreits setzt auf die Technik. Seine Mission: Livisch retten.

Wie erklärt man Probleme mit seinem Breitbandkabelanschluss, wenn es nicht mal mehr ein annähernd ähnliches Wort dafür gibt? Ernštreits versucht, den Wortschatz an moderne Wirklichkeiten anzupassen – mit Gedichtbänden. Mittlerweile gibt es einige Veröffentlichungen in livischer Sprache. Trotzdem: Ernštreits hat den Kampf für den Fortbestand der Sprache – zumindest der gesprochenen – längst verloren. „Es ist nicht wichtig, warum das Livische verschwunden ist. Viel interessanter ist, wie es die Sprache überhaupt so lange schaffen konnte“, sagt er. Er setzt auf neue Technologien, Online-Datenbanken, ein digitales, unsterbliches Sprachgedächtnis. „Kleine Sprachen haben Zukunft, weil sie ein einzigartiges Mittel zur Selbstentfaltung sind, allein schon deshalb, weil sie nicht institutionalisiert sind“, sagt er. Doch in einer globalisierten Welt, in der laut UNESCO bereits jetzt jede zweite Sprache als gefährdet gilt und bis zum Ende des Jahrhunderts ein Großteil von ihnen verschwunden sein wird, hat es das Livische nicht gerade einfach.

Noch erklären etwa 250 Menschen von knapp zwei Millionen Einwohnern in Lettland, offiziell Liven zu sein

Noch erklären etwa 250 Menschen von knapp zwei Millionen Einwohnern in Lettland, offiziell Liven zu sein. Maximal 15 vor ihnen engagieren sich aktiv für den Erhalt von Sprache und Kultur, drei davon sind Poeten. Es gibt eine livische Facebook-Seite. Im etwa 20 Kilometer von Riga entfernten Salaspils probt regelmäßig der Chor Lōja, der auch mit traditionellen livischen Liedern im ganzen Land auftritt. Daneben bekennen sich viele Letten zu ihren livischen Wurzeln, die sich oft nur noch aus Nachnamen ableiten lassen. Dass das kleine Lettland im 100. Jahr seines Bestehens nach Identität und Stabilität sucht, weil es in seiner Geschichte meist fremdregiert wurde und nun 28 Jahre nach der erneuten Unabhängigkeit erst einmal das Lettische mit Leben zu füllen versucht, ist vielleicht auch die letzte Chance für die livische Sprache. 

Eine Identität retten – das birgt die Gefahr, andere auszugrenzen. In Riga gibt es deshalb auch teils verstörende Stimmen, wie die von Dāvis Stalts. Der 36-Jährige sieht sich selbst als so etwas wie den letzten Liven, saß für die nationalkonservative Partei JKP im lettischen Parlament und führt heute eine kleine Bar, die sich ihres internationalen Publikums rühmt. Vor wenigen Jahren forderte Stalts eine livische Nation, die es historisch nie gab. 

Baiba Šuvcāne stapft weiter durch den Schnee, vorbei am kleinen Gemeindehaus in Kolka, vor dem die Flagge der Liven weht. Sie sei nun mal Livin, sagt Šuvcāne, keine Lettin. Trotzdem: Baiba Šuvcāne könne mit all dem, was etwa Stalts proklamierte, nichts anfangen, sagt sie, während sie ihre selbst gestrickte Mütze in den livischen Farben und mit den zwei weißen Bommeln zurechtrückt. Ihre Herkunft, sagt sie, ihre Identität und Geschichte seien livisch, aber das ist doch Kultur, etwas Verbindendes, das nicht ausschließen soll. Das sei der Grund, warum sie einst von Riga an den Ort ihrer Kindheitserinnerungen zog, in die Nähe des Gartenzauns, an dem bis heute diese einzigartige Harmonie der Sprache für sie nachhallt, die nun aber wohl für immer stumm bleiben wird.

Fotos: Antje Binder 

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