Ein Gespräch mit Ayaan Hirsi Ali über die Frage, ob alle Menschen gleich sind. 

Frau Hirsi Ali, wann ist Ihnen "Gleichheit" als Prinzip erstmals begegnet? 

Als Kind.Ich wuchs in Somalia in dem kommunistischen Regime Siad Barrés auf, der sich 1969 an die Macht geputscht hatte.Alle Menschen sollten angeblich gleich sein,doch das System war durchzogen von Korruption. Zudem wurde die Gleichheit pervertiert: Alle mussten das System gleich gut finden. Wer sich kritisch äußerte, musste mit Folter und Tod rechnen. 

Wann erlebten Sie wahre Gleichheit? 

Die politischen Aktivitäten meines Vaters im Widerstand gegen Siad Barré führten uns über Stationen in Saudi-Arabien und Äthiopien schließlich nach Nairobi,die Hauptstadt Kenias. Dort verbrachte ich meine Jugend und bekam eine Idee davon, was wahre Gleichheit bedeutet. 

Auf welche Weise? 

Kenia war früher eine britische Kolonie, das hatte sich auch auf die Lehrpläne an den Schulen ausgewirkt.Wir lasen Bücher wie Die fünf Freunde von Enid Blyton oder George Orwells 1984. Es war mein Glück, dass unser Vater so fortschrittlich war und darauf bestand, dass meine Schwester und ich zur Schule gingen.Er ahnte sicher nicht,welche Auswirkungen das auf uns haben würde. 

Was veränderte sich durch die Bücher? 

Sie hatten eine Botschaft,die es bisher in meinem Leben nicht gegeben hatte:Es ging darin um Individuen. Männer und Frauen begegneten sich auf einer Ebene. Ich bin als Muslima aufgewachsen ... 

...und mit den Regeln des Familienclans.

Im Clan geht es immer nur um die Interessen der Gruppe. In den Büchern aber gab es Heldinnen, die ihr Glück suchten.Wie viele Mädchen in meiner Klasse las ich heimlich Kriminalgeschichten und erotische Kitschromane.Damit verstieß ich wissentlich gegen die Regeln des Islam. So wie ich erzogen wurde, darf sich ein muslimisches Mädchen nicht gleichgestellt oder gar frei fühlen. Es geht nicht eigenen Ideen oder Abenteuern nach. Auch Sehnsucht nach all dem darf es nicht verspüren – schon gar nicht erotischen Gedanken nachgehen oder sexuelles Verlangen empfinden, solange es nicht verheiratet ist.Ich sollte,wie alle muslimischen Mädchen, keinen individuellen,eigenen Willen haben. Sondern nach innerer Ruhe streben, indem ich mich in Hingabe und Unterwerfung übe. Das bedeutet der Begriff Islam wörtlich.Dabei bemühte ich mich damals eigentlich noch so zu leben,dass ich in Gottes Augen gut war. Als "gute Muslima" war ich erhaben gegenüber anderen,und gerade als Jugendliche findet man das so bestechend: etwas Besonderes und Besseres zu sein.

Woher kam dann Ihr Widerstand?

Vielleicht lag es an der Kluft zwischen der Lebensführung, die der Islam verlangte, und dem wirklichen Alltagsleben. 

Können Sie diese Kluft beschreiben?

Ein Beispiel:Als Jugendliche erlebte ich,wie ungerecht das Leben zu meiner Mutter war. Mein Vater ging seinen politischen Aktivitäten nach,er ließ uns in Nairobi zurück,heiratete erneut,während meine Mutter sich in den durch Religion und Clankontext gesetzten Regeln bewegen musste.Viele ihrer Träume zerbrachen deshalb. Mir war es unbegreiflich: Die Gerechtigkeit Gottes wird auf jeder Seite des Korans gepriesen – wie kann er dann wollen, dass Frauen so leben müssen? Viele Frauen,aber auch Männer zerbrechen an den Widersprüchen und Schwierigkeiten,die sich aus einem Leben nach den Regeln des Islam ergeben. 

Kann man angesichts der unterschiedlichen Koran-Interpretationen von "dem" Islam sprechen – und darauf eine Kritik aufbauen?

Es gibt unterschiedliche Interpretationen. Doch wie viele Interpretationen des Wortes "schlagen" gibt es?

Wann haben Sie sich zum ersten Mal gleichgestellt gefühlt? 

Mit 23 Jahren. Mein Vater hatte für mich die Ehe mit einem Muslim aus Kanada arrangiert.Von Somalia floh ich nach Deutschland, dann in die Niederlande. Dort bekam ich nach einiger Zeit das Aufenthaltsrecht als Flüchtling.Vor meiner Familie war ich untergetaucht und lebte in ständiger Angst, aufgespürt zu werden.Tatsächlich fanden mich schließlich Clanmitglieder,die in Europa leben.Die Männer beriefen eine Versammlung ein, vor der ich meine Entscheidung gegen die arrangierte Ehe begründen musste.Das tat ich – und sie wurde akzeptiert. Ich wurde weder bedroht noch geschlagen. Für eine Frau, die in Europa aufwächst, ist das nicht unbedingt etwas Besonderes.Für mich war es revolutionär – und die Niederlande mit den dort garantierten Rechten eine neue Welt. 

Sie haben sich, seit Sie dort ankamen, Schritt für Schritt von Ihrem Glauben abgewandt. 

Ja,aber es geht mir um eine Reform des Islam. Ich weiß,wie schwer die Auseinandersetzung ist,denn ich bin diesen Weg selbst gegangen und habe mich von dem durch den Islam vorgeschriebenen Rollen- und Weltbild emanzipiert.Am Ende habe ich meinen persönlichen Schluss gezogen,doch das ist nicht die Botschaft meines heutigen Engagements. Sie heißt vielmehr: Die Auseinandersetzung ist möglich.Eine Reform dauert nicht Hunderte von Jahren. 

Für Ihre Kritik müssen Sie mit Morddrohungen radikaler Muslime leben. 

Ich bin oft gefragt worden, ob ich Todessehnsucht hätte, weil ich meine Kritik am Islam so klar ausspreche. Ich möchte nicht sterben.Doch ich bin in Somalia geboren,in einem Land, in dem der Tod allgegenwärtig ist.Mein Verhältnis zu ihm ist deswegen wohl ein anderes als das vieler Europäer,mit denen ich darüber gesprochen habe. 

Inwiefern? 

Für mich ist es nichts Selbstverständliches, am Leben zu sein. Solange es für mich unter meinen momentanen Lebensbedingungen erträglich ist,werde ich weiterkämpfen.Manches muss gesagt werden, sonst macht man sich zum Komplizen des Unrechts. 

Ayaan Hirsi Ali wurde 1969 in Mogadischu/Somalia geboren. Im Alter von 23 Jahren verweigert sie sich einer Zwangsehe und flüchtet in die Niederlande. Sie war dort Parlamentsabgeordnete und wurde zur "Europäerin des Jahres 2006" gewählt. Seit einigen Monaten lebt sie in den USA. Ihre Erfahrungen beschreibt sie in dem Buch Mein Leben, meine Freiheit.