Es ist ein bisschen wie David gegen Goliat. Die Marshallinseln gegen die USA, China, Indien, Pakistan, Großbritannien, Russland, Frankreich, Nordkorea und Israel. Im April verklagte der Ministaat im Pazifik mit seinen rund 70.000 Einwohnern die halbe Welt vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Die Anklage: Alle neun Staaten im Besitz von Atomwaffen täten zu wenig für die Abrüstung. „Die Existenz von Atomwaffen und das schreckliche Risiko für die ganze Welt bedroht uns alle“, sagt Tony de Brum, der Außenminister der Inselgruppe.
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Die Marshallinseln haben ein berechtigtes Interesse an Abrüstung. Nach dem Zweiten Weltkrieg führten die USA 67 Atomwaffentests auf den Marshallinseln durch. Die Konsequenzen für die Gesundheit der Bewohner und die Umwelt waren katastrophal. Die indigene Bevölkerung des Bikini-Atolls wurde zwangsumgesiedelt und ist bis heute nicht auf die Inselgruppe zurückgekehrt. Auch andere Atolle in der Region wurden bei Atomtests verstrahlt. Nach der Zündung der Wasserstoffbombe „Castle Bravo“, der größten jemals von den USA eingesetzten Bombe mit einer Sprengkraft von 1000 Hiroshima-Bomben, berichteten Anwohner von Fehlgeburten, Missbildungen bei Babys sowie Krebserkrankungen. Abseits des Inselstaats ist das Interesse an der Abrüstung von Atomwaffen derzeit aber eher klein.
Tatsächlich gibt es auf der Welt immer weniger Atomwaffen. Die Sowjetunion besaß Mitte der 1980er-Jahre allein etwa 40.000 nukleare Sprengköpfe, die USA rund 23.000. Im Kalten Krieg von 1947 bis 1989 lieferten sich beide Supermächte einen Rüstungswettlauf, der zwar in einige Stellvertreterkriege mündete, etwa in Vietnam und Afghanistan. Die massenhafte Produktion von Atombomben sollte dabei zum einen militärische Macht demonstrieren und zum anderen abschrecken: Greifst du mich an, schieße ich aus vollem Rohr zurück – und dann bleibt kein Stein mehr auf dem anderen. Ein Angriff mit Atomwaffen wurde aber letztlich nie befohlen, auch wenn es zum Beispiel während der Kuba-Krise 1962 fast dazu gekommen wäre.2009 war das Thema noch hochaktuell. Barack Obama war frisch gewählter US-Präsident, und Menschen auf der ganzen Welt lag sein „Yes, we can“ in den Ohren. Das beeindruckte auch das norwegische Nobelkomitee, das Obama auszeichnete „für seine außergewöhnlichen Bemühungen zur Stärkung der internationalen Diplomatie und zur Zusammenarbeit zwischen den Völkern“. Damit meinten sie vor allem Obamas Vision einer „Welt ohne Atomwaffen“. Was ist also daraus geworden?
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 1990er-Jahre war dann die massenhafte Rüstung nicht mehr entscheidend. 2010 konnten Obama und der damalige russische Präsident Medwedew auch im Rahmen eines neuen START-Vertrages vereinbaren, ihre Atomwaffenarsenale auf unter 1.550 Sprengköpfe zu senken. Im Juni 2013 kündigte Obama sogar an, dass die USA ihr Arsenal auf etwa 1.000 Stück reduzieren könnten.
Trotzdem arbeiten alle Atommächte emsig daran, ihre Waffen „intelligenter“ zu machen: Gemeint ist damit, dass die Atomsprengköpfe besser lenkbar und flexibler einsetzbar sein sollen. Wenn man bessere Waffen hat, braucht man davon auch nicht mehr so viele.Die Verkleinerung der Arsenale bedeutet aber nicht, dass die Atommächte den Nuklearwaffen grundsätzlich abgeschworen hätten. Tatsächlich geht mit der Reduzierung der Zahl auch eine Modernisierung des Waffenarsenals einher. Neben den USA und Russland haben seit den 1950er- beziehungsweise 1960er-Jahren auch Großbritannien, Frankreich und China die Atombombe. Diese fünf Staaten sind auch ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats und haben den Atomwaffensperrvertrag initiiert, der die weitere Verbreitung von Atomwaffen verhindern soll. Später kamen zu den Atommächten noch Indien, Pakistan und Nordkorea hinzu, die zusammen mit Israel derzeit die einzigen Länder sind, die den Atomwaffensperrvertrag aktuell nicht unterzeichnet haben. Doch auch Israel besitzt Atomwaffen: Der Nukleartechniker Mordechai Vanunu deckte Mitte der 1980er Jahre das Atomprogramm des Landes auf, und auch Ministerpräsident Olmert stellte Israel schon in eine Reihe mit anderen Atommächten. Offiziell räumt das Land aber den Besitz von Atomwaffen nicht ein. Überwacht wird die Einhaltung des Sperrvertrages von der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO). Die UN-Konferenz für Abrüstung (UNCD) hat das Ziel, Abrüstungsabkommen auszuhandeln.
So kann man davon ausgehen, dass eine gänzlich atomwaffenfreie Welt erst einmal nicht realistisch ist. Denn der Besitz solch mächtiger Waffen bedeutet einen großen Verhandlungsvorteil in der Außenpolitik. Daher wollen auch andere Staaten ein Stück des nuklearen Kuchens. Dem Iran wird seit Jahren vorgeworfen, eine Atombombe entwickeln zu wollen. Außerdem befürchten viele Staaten, dass Atomwaffen in die Hände von Terroristen fallen könnten. In Pakistan etwa haben islamistische Extremisten schon mehrfach erfolglos nukleare Anlagen des Staates angegriffen. Aber auch in anderen Ländern könnten Terroristen theoretisch versuchen, Atombomben zu erbeuten.
Das sei heutzutage angesichts der Ukraine-Krise wieder ein wichtiges Abschreckungsmittel, betonen einige Verteidigungspolitiker. Vor Ort fordern die Aktivisten der Bürgerinitiative „atomwaffenfrei. Jetzt“ allerdings seit Jahren nachdrücklich, die Bomben in die USA zurückzuverlegen. Die Lagerung sei teuer, umweltschädlich und unethisch. Stattdessen werden aber wohl auch die Sprengköpfe in Büchel modernisiert. So liegen sie, ausgestattet mit neuen Lenksystemen, in rheinland-pfälzischen Bunkern und warten darauf, im Ernstfall verwendet zu werden.Das betrifft auch Deutschland. Im Koalitionsvertrag einigten sich die Koalitionäre im letzten Jahr darauf, sich für den Abzug von Atomwaffen aus Deutschland und Europa einzusetzen. Nach dem Prinzip der sogenannten nuklearen Teilhabe sollen alle Mitgliedsstaaten der NATO, also auch Deutschland, das den Atomwaffensperrvertrag unterschrieben hat, durch die Bomben der anderen Mitglieder geschützt werden. Im Gegenzug sollen Piloten und Flugzeuge nicht nuklearer NATO-Staaten im Kriegsfall gegen Länder mit Massenvernichtungswaffen US-Atomwaffen einsetzen können. Und deshalb gibt es hierzulande noch immer taktische Atomwaffen: Am Fliegerhorst Büchel in der Eifel liegen bis zu 20 US-Nuklearwaffen, die der NATO zur Verfügung stehen. Im Notfall, also etwa bei einem kriegerischen Angriff auf Westeuropa, könnten diese dann von deutschen Piloten mit Tornado-Kampfflugzeugen über Feindesland abgeworfen werden.
Auch die Marshallinseln kämpfen weiter für eine Abrüstung. Im nächsten Jahr soll sich deshalb zum Beispiel Großbritannien zum ersten Mal wegen seiner Atomwaffenpolitik vor dem Internationalen Gerichtshof verantworten. Aber selbst eine Verurteilung der Atommächte wird vermutlich nichts ändern. Indien hat bereits erklärt, dass es den Gerichtshof in Den Haag nicht für zuständig hält. Und die größte Atommacht der Welt, die USA, erkennt eine übergeordnete Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshof überhaupt nicht an.
Arne Semsrott ist freier Journalist und lebt in Berlin. Bei einer Reise in den Irak richtete ein Freund von ihm einmal eine Banane auf einen Soldaten und rief „Peng“. Der Soldat fand es zum Glück lustig.
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