Es gab eine Zeit, da ging man für Energie auf die Straße. Belagerte Bahnstrecken, sabotierte Bauplätze, ließ sich festnehmen, gründete eine Partei. Der Kampf um die Stromfrage war etwas, das Menschen zusammenschweißte, eine Lebensaufgabe – und scheinbar eine Frage von Leben oder Tod. Diese Zeit war vor etwa 25 Jahren. Heute interessiert Energie als politisches und gesellschaftliches Thema kaum jemanden. Nur wenn im Münsterland im Winter der Strom ausfällt, der Benzinpreis steigt, die russische Gasprom mithilfe der Erdgaslieferungen Druck auf die Ukraine ausübt oder in Tschechien nahe der deutschen Grenze ein Atomkraftwerk gebaut wird, spricht vielleicht noch jemand über Energie. Ein Partygespräch kann man damit aber nicht bestreiten, jemanden aufregen auch nicht. Der großen Mehrheit scheint es egal zu sein, woher der Strom kommt – solange er da ist und solange Kraftwerke, Atommüllendlager oder Windräder nicht gerade vor der eigenen Haustür stehen. Die wenigen, die sich überhaupt für die Probleme und die Zukunft unserer Energie interessieren, haben feste, ideologisch geprägte Ansichten im Kopf und diskutieren nicht offen darüber, was das Beste für alle wäre. Die zwanzig Jahre alte Romantik, die man heute noch auf Kongressen für regenerative Energie und in den Büros der lokalen Umweltorganisationen findet, kommt barfuß daher. Sie sieht in der Kernkraft das absolut Böse und Strom aus Wind, Wasser oder Sonnenenergie durch rosa Brillen und mit ganz, ganz vielen Sonnenblumen dekoriert. Gleichzeitig sind einige darunter, die mit den aktuellen Zahlen des europäischen Energiemarktes um sich werfen, als wären es die Ergebnisse der Fußball-Bundesliga. Die ideologisch noch in den Achtzigern stecken, dafür aber das technische Know-how der Zukunft beherrschen. Die ohne weiteres die Vor- und Nachteile von Stromgewinnung durch Wind, Wasser, Sonne und Mist aufzählen und gegeneinander abwägen können, aber nicht verstehen, warum für die Diskussion über Energieversorgung auch wichtig ist,wer gerade russischer Außenminister ist und wie es Michail Chodorkowski eigentlich geht. Die hochprofessionelle Kampagnen lancieren, in Brüssel Lobbyarbeit für klimafreundliche Stromgewinnung betreiben und Einfluss auf die Mechanismen der Gesetzgebung nehmen wollen, während sie überzeugt sind, dass die großen Strom- und Ölkonzerne in einer riesenhaften Verschwörung die Welt untereinander aufgeteilt haben. Die sich tatsächlich um die Zukunft der Stromgewinnung sorgen – allerdings unter der nicht diskutierbaren Prämisse, dass früher oder später alle Atomkraftwerke abgeschaltet werden müssen. Es ketten sich zu den Castortransporten jedes Mal wieder Jugendliche an Bahnschienen, aber der Aktionismus kann nicht darüber hin-wegtäuschen, dass die großen Auseinandersetzungen zwischen dem Staat und der Gesellschaft und zwischen den verschiedenen Generationen heute nicht mehr vom Strom handeln.
Die Politik setzte früher vorrangig auf günstigen Atomstrom und Stein- und Braunkohle – einfach weil Deutschland Kohle hat, während es mit Öl und Erdgas eher schlecht aussieht. Kernkraftgegner begegnen der obigen Rechnung optimistisch: Man muss nur den Anteil erneuerbarer Energien steigern, dann geht es auch ohne Kohle und Atomstrom. Das Problem dabei: Strom muss, zumindest solange es keine deutlich besseren Speichermöglichkeiten gibt als bisher – genau dann produziert werden, wenn er auch verbraucht werden soll. Das können von Sonne und Wind abhängige Energiequellen noch lang nicht garantieren. Deutschland hat sich, wie viele andere Länder auch, verpflichtet,den Ausstoß von klimaschädlichem CO2 zu reduzieren. Das heißt: Nicht nur die Kernkraft soll zurückgefahren werden, auch die Verbrennung von Kohle will man verringern. Beides schafft man nur, wenn man spart. Strom sparen heißt aber vor allen Dingen: Bequemlichkeiten ablegen und mehr mitdenken. Allein dafür, dass wir den Fernseher oder die Stereoanlage per Fernbedienung an- und ausschalten können, läuft ein Kernkraftwerk. Trotzdem: Wer steht schon ex-Weg zum Wohlstand. Der britische Ministerpräsident Tony Blair hat das Comeback der Atomenergie für Großbritannien verkündet. Die Ukraine plant ein Dutzend neuer Kernkraftmeiler, um sich von russischen Gaslieferungen unabhängig machen zu können. Wie heute schon Öl, wird Strom in Zukunft zunehmend eine politische Frage sein. Etwas,dessen Preis und Verfügbarkeit auch davon abhängen, wie die politische Lage in anderen Ländern ist. Wir müssen überlegen, welche Sicherheiten wir von den Kraftwerken und dem gegenwärtigen, für die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts konzipierten Stromnetz erwarten, was wir bereit sind zu zahlen, wo wir bereit sind zu sparen und wie wir das Klima am effektivsten schützen können. Ob Atomkraft da dann inbegriffen ist, ob die Strompreise steigen, ob wir auf Strom aus dem Ausland angewiesen sein werden, das wird sich dann alles zeigen. Wichtig ist, dass die Fragen überhaupt gestellt werden. Wir müssen aufhören so zu tun, als ob der Ausstieg aus der Kernkraft schon die Lösung aller Probleme wäre. Wir müssen begreifen, dass die Kabel hinter der Steckdose nicht nur zu irgendeinem Kraftwerk führen, sondern zu einer Menge politischer Fragen. Wenn wir wollen, dass Strom auch in Zukunft einfach so da ist, müssen wir uns mit diesen Fragen beschäftigen – ohne fertige Meinungen, ohne unverhandelbare Bedingungen. Besser sofort.