Im Zentrum Hamburgs gibt es etwas, das es eigentlich nicht geben dürfte. Etwas, das völlig unwahrscheinlich ist in einer Stadt, in der nur jedes zehnte Gebäude älter als hundert Jahre ist und wo regelmäßig Altbauten abgerissen werden. Es ist kenntlich gemacht durch ein rotes Schild mit der Aufschrift „Komm in die Gänge“. Sein Name: Gängeviertel.

Das Gängeviertel besteht aus gut einem Dutzend Häusern in der Hamburger Neustadt. In dieser vor dem Zweiten Weltkrieg dicht bebauten Gegend lebten ursprünglich vor allem Arbeiter und Handwerker. Heute stehen direkt neben den Häusern des ­Gängeviertels moderne Bürobauten. In der Nähe sitzen ­Google und der Axel-Springer-Verlag. Immer wieder gab es Pläne, das Altbau-Ensemble zu sanieren. Passiert ist jedoch jahrzehntelang fast nichts: Anfang 2000 begannen die Gebäude zu verfallen, Dächer gingen kaputt, Wände bröckelten, später musste man sogar in manchen Häusern ganze Stockwerke sperren, weil die Sicherheit der Bewohner nicht mehr garantiert werden konnte. Irgendetwas musste also geschehen.

Und dann geschah auch etwas: 2008 verkaufte die Stadt Hamburg das Gros des Gängeviertels an den niederländischen Investor Hanzevast. Der hatte große Pläne, in denen die alten Häuser jedoch nur eine kleine Rolle spielten. Bis auf einige Fassaden wollte Hanzevast den größten Teil des Gängeviertels abreißen und durch Neubauten aus Glas und Stahl ersetzen.

Nicht allen gefiel das: Im August 2009 besetzten rund 200 Künstler und Aktivisten die Häuser und gründeten einen Verein, um das Gängeviertel zu retten. Sie wollten die Politiker im Rathaus dazu bewegen, die Häuser zu erhalten, zu sanieren, günstige Mieten für Wohnungen und Ateliers zu ermöglichen sowie Kultur zu fördern. Prominente wie der Regisseur Fatih Akin, die Band Fettes Brot und der Maler Daniel Richter unterstützten das Projekt. Mit Erfolg: Die Stadt kaufte das Gelände vom Investor zurück und schloss 2011 mit dem Verein und der inzwischen gegründeten Gängeviertel-Genossenschafteine Vereinbarung, die als Grundlage dient, um das Quartier gemeinsam zu entwickeln und die Altbauten zu erhalten.

Ein Symbol für Mitbestimmung im Städtebau – weit über die Stadtgrenzen hinaus

So wurde das Gängeviertel weit über die Grenzen ­Hamburgs hinaus zu einem Symbol für Mitbestimmung im Städtebau. In anderen deutschen Städten gibt es mittlerweile ähnliche Initiativen. In Berlin etwa dieGenossenschaft Holzmarkt, gegründet von den Machern der ehemaligen Clubs „Bar 25“ und „Kater Holzig“, die zurzeit eine Brachfläche am Spreeufer entwickeln, auf der ursprünglich ein Bürogebäudekomplex gebaut werden sollte. Stattdessen sollen dort nun unter anderem Studentenwohnungen und ein Künstlerdorf entstehen.

Seit 2013 saniert das private Unternehmen „steg“ im Auftrag der Stadt Hamburg die ersten Häuser im Gängeviertel für insgesamt gut 20 Millionen Euro aus öffentlichen Mitteln. Vor Kurzem sind die ersten Mieter in die sanierten Häuser eingezogen – zu Mietpreisen, die weit unter dem Hamburger Schnitt liegen. Ist also alles gut? Eher nicht.

„Eine Frechheit, wie die Stadt mit uns umgeht.“
„Das ist nicht fair.“
„Wir wollen wissen, wie es jetzt weitergeht. Die Zukunft ist nicht gesichert.“ 

Das sagt Christine Ebeling, Kunstschmiedin, Bildhauerin und so etwas wie die Stimme des Gängeviertels. Ebeling sitzt mit ihrem Laptop in einem der noch unsanierten Gebäude, in dem eine Galerie untergebracht ist. Sie ist eine Frau der ersten Stunde der Bewegung und in diesen Tagen auf die Stadt Hamburg schlecht zu sprechen. Lange war nicht klar, wie die Genossenschaft nach der Sanierung die Gebäude selbst verwalten soll. Inzwischen ist ein Generalmiet- und Verwaltungsvertrag ausgehandelt worden, der die wichtigsten Ziele beinhaltet: Vor allem die Frage der Selbstverwaltung ist für die Aktivisten im Gängeviertel entscheidend. Sie wollen mitbestimmen, wer in die Wohnungen im Gängeviertel einzieht. Sie möchten sicherstellen, dass in die für Gastronomie, Handel und Kultur vorgesehenen Teile des Geländes niemand kommt, der die Ziele des Gängeviertels nicht teilt. Sie wollen einen Raum im Stadtzentrum schaffen, der nicht vom Streben nach Profit bestimmt ist. 

Wo früher Euphorie war, herrscht jetzt meist Ernüchterung

Doch wie das wirklich umgesetzt werden kann, ist momentan nicht klar. Kauft die Genossenschaft die Gebäude? Schließt sie einen Mietvertrag über viele Jahrzehnte mit der Stadt? Offenbar ist es deutlich einfacher, ein Stadtviertel vor dem Abriss zu retten, als es dauerhaft zu entwickeln. Im Gängeviertel hat sich anstelle der Euphorie der Anfangszeit Ernüchterung breitgemacht.

Auch mit der bisherigen Sanierung sind die Aktivisten unzufrieden. Viel zu wenig von der über hundertjährigen Baugeschichte der Häuser sei nach der Sanierung der ersten Gebäude noch übrig, kritisiert Ebeling. Zu oft hätte man sich für Standardlösungen entschieden, statt sich individuell etwas einfallen zu lassen. Es geht dabei um Details wie entfernte Altbautüren und neue Rigipswände.

Von der Stadt will auch auf mehrmalige Anfragen hin niemand über das Gängeviertel sprechen. Dafür redet Hans-Joachim Rösner, Geschäftsführer der steg, jener Firma, die die Stadt Hamburg beauftragt hat, das Gängeviertel gemeinsam mit den Aktivisten zu entwickeln. „Es geht hier um öffentliches Geld. Die Stadt saniert das Gängeviertel auf eigene Kosten und muss sich an die Regeln halten, die für solche Projekte gelten“, erklärt Rösner. Man könne nicht immer die schönste, aufwendigste und teuerste Lösung wählen.

Und noch etwas störe ihn: dass er mit den ­Aktivisten aus dem Gängeviertel nie auf eine vertrauensvolle Arbeitsebene gekommen sei, obwohl sie nun schon seit Jahren an einem gemeinsamen Projekt arbeiten. Die Vertreter des Viertels fühlten sich bevormundet und vor vollendete Tatsachen gestellt, einige vertrauten ihm aber auch aus Prinzip nicht, sagt Rösner. Einmal sei er bei einer Sitzung sogar des Raumes verwiesen worden. Natürlich werde man weiter zusammenarbeiten. Doch auch hier: Ernüchterung statt Euphorie.

Klar: Jeder hat andere Prioritäten und Vorstellungen

Am Beispiel des Gängeviertels offenbart sich die Konfliktlinie, wenn es um Mitbestimmung in der Stadtentwicklung geht: Jeder hat andere Prioritäten und Vorstellungen, wie so ein Projekt zu stemmen ist. Wie dieser Konflikt ausgeht und ob am Ende alle zufrieden oder enttäuscht sind, lässt sich heute noch nicht sagen. Vielleicht ist es manchmal besser, auch die finanzielle Verantwortung für ein Projekt gleich selbst zu übernehmen, statt ständig darauf zu warten, dass alle Partner sich genau so verhalten, wie man es gern hätte. Zumindest sieht das der Architekt Joachim Reinig so, der seit einigen Jahren die Sanierung eines Gebäude­ensembles für Künstler betreibt.

„Bisher war ja die Losung: ‚Wir haben die Häuser gerettet, jetzt soll die Stadt zahlen.‘ Aber vielleicht ist es viel sinnvoller, sich auf eigene Kräfte zu stützen und die Häuser so schnell wie möglich zu kaufen“, meint Reinig. So hätten die Aktivisten mehr Verantwortung, aber auch mehr Freiraum für eigene Entscheidungen. Diese müssten zudem einige ihrer idealistischen Positionen überdenken, sollten versuchen, mit ihrer Arbeit im Viertel auch Geld zu erwirtschaften, fordert Reinig.

Klar ist: Um einen Kaufplan umzusetzen, bräuchten Christine Ebeling und ihre Mitstreiter viel Geld und viel öffentliche Unterstützung – wahrscheinlich noch viel mehr als bei der Rettung der Häuser vor sechs Jahren.

Trotz aller Schwierigkeiten wollen die Gängeviertel-Aktivisten weitermachen. Dass die ganze Sache noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird, ahnt auch Ebeling. „Das hier ist ein Lebensprojekt“, sagt sie, während sie den Blick schon wieder auf ihren Laptop richtet. Denn es warten noch unendlich viele Dinge, die zu organisieren, zu verhandeln, zu erledigen sind. Angekommen ist das Gängeviertel noch lange nicht. 

Fotos: Franziska Holz, Henning Bode/laif