Sein eigener Großvater soll Joann Sfar zum Hauptcharakter seiner Comicreihe „Klezmer“ inspiriert haben. Der stammt, genau wie die Figur Jaakov, aus der Ukraine und studierte an einer Jeschiwa (jüdische Hochschule), um Rabbiner zu werden. Doch siedelt Sfar die Geschichte des 15-jährigen Jaakov um 1900 an, als die Ukraine eine Provinz im russischen Zarenreich war. Sfars Großvater erreichte dieses Alter erst Ende der 1930er-Jahre, auf der Flucht aus der Sowjetunion nach Frankreich. Seine gesamte restliche Familie wurde in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten getötet.
Über Gott soll Sfars Großvater oft gesagt haben: „Entweder existiert er nicht, oder er ist ein Idiot“ – und zwar meistens ausgerechnet dann, wenn er seinen Enkel vom Hebräischunterricht abholte. Figuren, die über tiefe Kenntnisse der jüdischen Lehre verfügen, es aber nicht allzu dogmatisch mit deren Geboten nehmen, sind ein fester Bestandteil des umfangreichen Werks des 1971 in Nizza geborenen Joann Sfar.
So auch Jaakov, der den Talmud zwar auswendig kennt, ihn aber, wie die Tradition es gebietet, auch gern immer wieder hinterfragt. Um Gott zu provozieren, stiehlt er den Mantel seines Lehrers und wird prompt von der Jeschiwa verwiesen. Damit fängt für ihn eine Reise ins Ungewisse an – vor dem Hintergrund der Pogrome, die im christlich-orthodoxen Russland der Jahrhundertwende gegen die jüdische Minderheit verübt wurden. Jene Welle von antisemitischer Gewalt wurde durch die politische Instabilität begünstigt, die Russland 1881 nach dem Mord an Zar Alexander II. erfasste. Damals lebten noch um die acht Millionen Juden in Russland, vor allem im Westen des Zarenreiches. Bei dessen Ende 1917 waren es nur noch fünf Millionen Juden – viele waren in die USA, aber auch nach Frankreich, England und Palästina emigriert.
Auf seiner Wanderung trifft Jaakov auf verschiedene Schicksalsgenossen, wie etwa Vincenzo, der ebenfalls von seiner Jeschiwa verstoßen wurde, weil er Äpfel klaute; den Roma Tchokola, dessen Familie von Kosaken umgebracht wurde; den unergründlichen Klezmer-Musiker Noah Davidovitch, dessen Orchester rivalisierenden Musikern zum Opfer fiel; und die hübsche Chava, die aus ihrem Dorf floh, um nicht zu heiraten.
Wie der Zufall so spielt, entpuppt sich Vincenzo als virtuoser Geiger. Und Chava kennt all die Klezmer-Lieder, die das jüdische Gemeinschaftsleben heraufbeschwören und bei Volksfesten auch Nichtjuden zum Tanzen bringen. So tun sich die fünf Gebeutelten als Klezmer-Band zusammen und lassen, begleitet durch Joann Sfars nur scheinbar schludrigen Strich, die Welt des osteuropäischen Schtetls vom Anfang des 20. Jahrhunderts wieder zum Leben erwachen. Sfar wechselt seine Zeichentechnik oft unmittelbar, mal malt er wild mit Aquarell, mal kritzelt er grob mit Blei- und Buntstiften.
Noch während der Arbeit an seiner fünfbändigen „Klezmer“-Reihe veröffentlichte Sfar außerdem den Band „Chagall in Russland“, den Jugendjahren des russisch-jüdischen Malers gewidmet. Angesiedelt in Chagalls Geburtsstadt Witebsk im heutigen Weißrussland, zu Zeiten des Bürgerkriegs um die Oktoberrevolution 1917, kommunizieren und überschneiden sich beide Werke auf zahlreichen Ebenen. Wieder gilt Sfars Interesse dem jüdischen Leben und dem gesonderten Platz des Künstlers in der dörflichen Gemeinde vor dem Hintergrund historischer Umbrüche. Die allgegenwärtige Gewalt konterkariert Sfar hier mit verspielten, wesentlich detaillierteren Referenzen an Chagalls Tiersymbolik und erzeugt eine ebenso unheimliche Untergangsstimmung wie mit seiner skizzenhaften Visualisierung der leidenschaftlichen Klezmer-Klänge.
Dabei sieht Sfars Chagall dem jungen Jaakov verblüffend ähnlich. Und so verwundert es auch kaum, als plötzlich Vincenzo hinter einer Hütte auftaucht und darauf beharrt, Chagall mit „Herr Jaakov“ anzusprechen. Im Redefluss verrät Vincenzo, wo die Geschichte in dem in Deutschland noch nicht erschienenen finalen „Klezmer“-Band hinführt: nach Chişinău. Das lässt nichts Gutes erahnen. 1903 kam es in der moldawischen Stadt zu einem massiven Pogrom.