
„Die Fifa hat uns vier Jahre geraubt“
In Afghanistan kämpfte Khalida Popal zuerst für eine Frauennationalmannschaft und nach der Machtübernahme der Taliban für deren Evakuierung. Jetzt kämpft sie dafür, dass das afghanische Team wieder bei internationalen Turnieren antreten darf
fluter.de: In der Schweiz beginnt heute die Euro der Frauen, eines der größten internationalen Turniere des Frauensports. Bekommt Frauenfußball endlich genug Aufmerksamkeit?
Khalida Popal: Es tut sich viel, es gibt so viele Turniere, die gerade weltweit stattfinden oder geplant sind. Aktuell die Europameisterschaft, dann der OFC Women’s Nations Cup, die Fußball-Ozeanienmeisterschaft der Frauen auf Fidschi. Frauenfußball erlebt einen Aufschwung, der Sport verzeichnet Rekorde. Trotzdem gibt es auch weiterhin Diskriminierung – wie zum Beispiel, dass die afghanische Frauennationalmannschaft bei internationalen Turnieren nicht antreten darf, die Männer schon.
Warum?
Das hat zwei Gründe: Es liegt einerseits an den Taliban in Afghanistan, die Frauen nicht gestatten, Fußball zu spielen. Andererseits aber auch am Weltfußballverband, der Fifa, die sich auf ihr Statut beruft: Der jeweilige nationale Fußballverband muss eine Mannschaft anerkennen, bevor sie es tut. In unserem Fall ist der nationale Verband leider in den Händen der Taliban.
In Ihrem Buch „Meine wundervollen Schwestern“, das gerade auf Deutsch erschienen ist, beschreiben Sie, dass Sie schon vor der Gründung der Nationalmannschaft im Jahr 2007 gegen Widrigkeiten kämpfen mussten, um zu spielen.
In meiner Jugend in den frühen 2000er-Jahren waren zwar nicht mehr die Taliban an der Macht, sie wurden 2001 durch die Invasion der USA zurückgedrängt. Aber sie hatten ein Erbe hinterlassen. Die meisten Menschen dachten: Frauen gehören nach Hause, sie dürfen nicht Fußball spielen. Wenn man uns doch mal spielen sah, wurden wir als „Huren“ beschimpft, und unseren Familien wurde gesagt, dass Schande über sie komme. Oft wurde unser Spielfeld zerstört, vielen Mitspielerinnen wurde von der eigenen Familie verboten, weiter zu trainieren. Obwohl oder gerade weil es mit so vielen Risiken verbunden war zu spielen, liebte ich es. Auf dem Platz hatte ich immer das Gefühl, auszubrechen und frei zu sein, meine Angst war dann einfach verschwunden. Es hat etwas Magisches, dem Ball hinterherzujagen, im Team zu arbeiten, das Spiel zu lesen und den eigenen Körper zu Höchstleistungen anzuspornen. Als junge Erwachsene fühlte ich mich stark, wenn ich spielte.
„Ums Gewinnen ging es nicht. Wir standen zum ersten Mal auf einem richtigen Fußballplatz.“
Ihre Schule war von hohen Mauern umgeben, Sie trainierten heimlich im Hof.
Wir hatten keinen richtigen Fußballplatz, das Tor markierten wir mit Steinen, Torjubel war verboten, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Trotzdem versuchten wir, immer mehr Mitschülerinnen für unser Team zu gewinnen, später dann auch mit der Hilfe einiger Lehrerinnen. Manchmal traten wir zum Spaß gegen andere Schulen an und schlichen durch die Seitenstraßen zu den Turnieren.
Wie wird aus einer Schulmannschaft die Nationalmannschaft Afghanistans?
Wir gingen immer wieder zum Präsidenten des afghanischen Fußballverbands und brachten unsere Idee vor: Der Frauenfußball in Afghanistan würde westliche Investoren anlocken, das Geld könnte dann auch in die Männermannschaft fließen. Nach vielen Versuchen wurde unsere Mannschaft 2007 endlich anerkannt. Wir bekamen richtige Trainer und Trainerinnen und fuhren zu unserem ersten Freundschaftsspiel als Nationalmannschaft nach Pakistan.
Haben Sie gewonnen?
Verloren! Aber ums Gewinnen ging es nicht. Wir standen zum ersten Mal auf einem richtigen Fußballplatz. Das war allerdings auch Teil des Problems: Wir hatten immer nur auf halb so großen Plätzen trainiert. Die Tore waren riesig, ein paar von uns trugen zum ersten Mal Stollenschuhe. Beim Einlaufen wurde die Nationalhymne für uns gespielt, wir hatten zum ersten Mal Trikots an.
Auch als die Mannschaft offiziell registriert war, wurden Sie weiter angefeindet und flohen 2011 deshalb ins Exil nach Dänemark. Was wurde aus der Mannschaft nach der Machtübernahme der Taliban 2021?
In Dänemark erreichten mich verzweifelte Anrufe und SMS von Spielerinnen, die Angst hatten, dass sie ins Visier der Taliban geraten könnten. Es meldeten sich auch viele Mädchen bei mir, die ich gar nicht kannte, die angefangen hatten, in den Jugendligen Fußball zu spielen, die wir aufgebaut hatten. Ich war verzweifelt und fühlte mich verantwortlich, wusste aber erst mal nicht, was zu tun war. Mithilfe von Sportfunktionär:innen und Aktivist:innen schafften wir es, Spielerinnen auf die Listen der Evakuierungsflüge nach Europa zu setzen. Für die Nationalmannschaft stellten wir bei den australischen Behörden Asylanträge, sie wurden vom Fußballclub Melbourne Victory aufgenommen. Ein australischer Fußballer und Aktivist hat uns dabei geholfen. Dort trainieren sie jetzt – dürfen aber, wie gesagt, keine internationalen Turniere als eigene Nationalmannschaft bestreiten.
Die Fifa hat im Mai verkündet, die Mannschaft als afghanisches Flüchtlingsteam anzuerkennen, sie dürfen dann an internationalen Freundschaftsspielen teilnehmen. Ein erster Schritt?
Wir haben viele Jahre mit Freundschaftsspielen hinter uns. Die Fifa hat uns vier Jahre geraubt, in denen wir nicht an internationalen Wettbewerben teilnehmen konnten. Wir geben Interviews und sprechen darüber, um auf diesen Zustand aufmerksam zu machen. Wir fordern weiterhin, dass sie ihr Statut ändert und uns anerkennt, auch wenn die Taliban das nicht tun.
Khalida Popal, Jahrgang 1988, war Kapitänin der afghanischen Frauen-Fußballnationalmannschaft, später arbeitete sie für den afghanischen Fußballverband. Mittlerweile lebt sie im Exil in Dänemark, arbeitet als Aktivistin und hat die Nichtregierungsorganisation „Girl Power“ gegründet.
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Titelbild: Duncan Elliott